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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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Freund.«
»Bitte.« Als Freund. Wie viele Menschen diese gewöhnungsbedürftige Reinkarnation von Kuhle wohl so anspricht? Ich schimpfe mich für den Gedanken. Es ist so viel Zeit vergangen. Alles ist anders und völlig unerwartet. Zudem war ich derjenige, der die Brücken abgebrochen hat, vorschnell und etwas feige, wie ich mir in diesem Augenblick eingestehen muss.
Er nennt mir einen osteuropäisch klingenden Nachnamen. Ich tippe ihn in mein Smartphone, als würde ich einen Taschenrechner bedienen. Ich fühle mich plötzlich müde und ausgelaugt und grauenhaft fehl am Platz. Ein Eindringling. Die Nachricht, dass Mel existiert, in Berlin lebt, für mich erreichbar ist, geht dabei ein wenig unter.
Wir reden noch eine Weile, ich erzähle ein paar Geschichten aus meinem Leben, bleibe dabei aber an der Oberfläche und lasse viel aus. Die beiden berichten aus ihrem unglaublichen Hera-LindDasein. Zwischendrin, als sich Sabrina kurz für einen Klogang verabschiedet, bin ich versucht, mich zu Kuhle zu beugen und zu flüstern: »Was gibt sie dir? Macht sie was in dein Essen?« Aber ich lasse es. Vielleicht würde er nicht einmal lachen. Außerdem ist es ungerecht. Ich weiß überhaupt nichts.
All das fühlt sich an, als wäre ich nicht dabei. Ich starre Kuhle an, als hätte sich ein fremder Geist seines Körpers bemächtigt. Ein kräftiger Geist.
Dieses Szenario ist so merkwürdig, irgendwie unecht, und ich fühle mich sekündlich unwohler, habe das starke Gefühl, erst einmal verarbeiten zu müssen, was heute alles geschehen ist – mit ungewissem Ausgang. Als Michael erklärt, dass Lukas jetzt auf sein Zubettgehritual Anspruch hätte, bin ich fast erleichtert.
»Wir sollten das baldmöglichst wiederholen«, sagt er zum Abschied und umarmt mich wieder. Diese Floskel wird er häufiger benutzen, nehme ich an. Idiot, sage ich gleich darauf zu mir selbst.
»Auf jeden«, antworte ich, winke Sabrina zu und springe, jeweils drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter.
    Kurz darauf wandere ich ziellos durch die Straßen dieser netten Gegend, brauche ein Bier, ein richtiges, eines aus unökologischem Anbau, aus einer Brauereifabrik, das in glänzenden, antiseptischen, stählernen Tanks gereift ist, von gesichtslosen Robotern abgefüllt wurde und von dem jede Flasche so schmeckt, als wäre sie ein Klon der Referenzflasche. Zwei Querstraßen weiter finde ich ein schwäbisches Restaurant, »Stuttgarter Hofbräu« habe ich zwar auch noch nie getrunken, aber ich nehme an, dass in der Brauerei wenigstens ab und zu jemand »Scheiße« sagt. Als ich auf mein Halbes warte, beobachte ich die übrigen Gäste. Lehrerpärchen und bärtige Männer, die in Reclam-Heftchen lesen. Niemand raucht. Aber das Bier schmeckt großartig. Ich zünde mir eine Zigarette an – in der Wohnung der Kuhlmanns wäre ich nicht einmal im Traum auf die Idee gekommen, überhaupt zu fragen –, das Spätzle essende Lehrerpärchen am anderthalb Meter entfernten Nebentisch quittiert es mit einem vorwurfsvollen Blick, aber vor mir steht ein Aschenbecher. Ich lächle und sage: »Guten Appetit.« Die beiden sehen sich an, exakt auf die Art, mit der sich Michael und Sabrina angesehen haben, als Lukas das böse Wort benutzt hat. Fickscheiße . »Passivrauchen tötet«, sagt der Mann leise, aber erkennbar an mich gerichtet, und ich nehme die Zigarette vor mein Gesicht und sage ebenso leise: »Großer Gott, das ist ja furchtbar .« Während der folgenden Minuten halte ich die Fluppe zwischen den Zügen ostentativ weit von mir weg.
    Meine Überraschung ist etwas anderem gewichen. Auf gewisse Weise fühlt es sich hohl an, weil jemand, mit dem ich immer noch irgendwie gerechnet habe, eine völlig unvorhersehbare Entwicklung genommen hat, eine, die nur noch wenig mit dem zu tun hat, was früher war. Aber das gilt, wenn ich ehrlich bin, für mich selbst auch, mit dem Unterschied, dass ich völlig alleine dastehe. Möglicherweise jedenfalls. In diesem Augenblick weiß ich nicht, was daraus werden wird, und ich würde auch keine Prognose wagen. Ich muss mir eingestehen, dass der neue Kuhle ein Rätsel für mich darstellt.
    Das ist traurig, aber vorerst nicht zu ändern, denke ich. Natürlich finde ich schön, dass er sein Glück gefunden hat, aber mir fehlt das Einfühlungsvermögen für diese neue, unglaubliche Situation. Ich nehme den letzten Schluck von meinem Bier und sage leise: »Prost, Kuhle.« Ich drücke die Zigarette aus, lege einen FünfEuro-Schein auf den Tisch

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