Geisterfjord. Island-Thriller
»Was war das?«
»Was?« Garðar spähte in die Richtung, in die Katrín zeigte. »Meinst du Líf?«
»Nein, hinter ihr hat sich was bewegt.«
»Nee.« Garðar schaute sie verwundert an. »Da ist nichts. Nur eine seekranke Frau in einem Skianzug. Das war bestimmt nur der Köter.«
Katrín versuchte, ruhig zu bleiben. Schon möglich, dass sie sich versehen hatte. Aber es war auf keinen Fall Putti gewesen, denn der stand vor Líf und schnüffelte in der Luft. Vielleicht hatte der Wind einen losen Gegenstand vorbeigeweht. Aber es war so schnell gegangen, dass es ein scharfer Windstoß gewesen sein musste. Katrín ließ Garðars Arm los und bemühte sich, auf dem Weg über den Schwimmsteg ruhig zu atmen. Als sie bei Líf angekommen waren, erwähnte sie den Vorfall nicht mehr. In den trockenen, gelblichen Sträuchern hinter ihnen raschelte und knackte es. Weder Garðar noch Líf schienen etwas zu bemerken, aber Katrín wurde das Gefühl nicht los, dass sie in Hesteyri nicht alleine waren.
2. Kapitel
»Ich weiß nicht, wer das getan haben könnte, aber ich bezweifle, dass es Kinder oder Jugendliche waren. Obwohl das natürlich denkbar ist.« Freyr steckte die Hände in seine Manteltaschen und musterte das Chaos. Auf dem Boden lagen zerfledderte Teddybären und Stoffpuppen mit abgerissenen Gliedmaßen und ausgestochenen Augen. »Wir haben wohl allen Grund dazu, uns um diese Person oder diese Personen Sorgen zu machen, auch wenn es schwierig ist, auf einer solchen Grundlage eine eindeutige Diagnose zu stellen. Wenn es dir hilft, würde ich eher sagen, dass es eine Einzelperson war. Tut mir leid, aber Genaueres kann ich nicht sagen.« Er starrte auf die gelbgestrichene Wand und die Reste der Zeichnungen der Kindergartenkinder von Ísafjörður. Eigentlich hingen nur noch die Ecken der Blätter mit Poster-Strips befestigt an der Wand. Der Rest lag auf dem Boden, zerrissen und zerfetzt; dickes weißes Papier mit bunten Motiven. Auf den ersten Blick sah es so aus, als hätte der Randalierer sie hektisch runtergerissen, um Platz für seine Botschaft zu haben. Wenn man genauer hinschaute, sah man jedoch, dass er die Bilder sorgfältig in kleine Schnipsel zerrissen hatte. An der Wand prangten ungelenke Buchstaben, in wilden Linien mit Wachsstiften gezogen, die zerbrochen zwischen den Papierfetzen lagen. Es war unmöglich, das Alter der Person zu schätzen, die diese Botschaft an die Wand geschrieben hatte, falls es überhaupt eine Botschaft sein sollte: SCHMUTZIG .
Die Wand erhellte sich für einen kurzen Moment, und Freyr wurde geblendet. »Hast du irgendeine Assoziation zu dem Geschmiere?«, fragte Dagný, nahm die klobige Kamera vom Gesicht, drehte sich aber nicht zu ihm um, sondern betrachtete die Buchstaben.
»Nein«, antwortete Freyr und musterte ihr hübsches Profil. Es strahlte eine gewisse Strenge aus, aber ihr kurzgeschnittenes, widerspenstiges Haar betonte ihre Weiblichkeit, zweifellos entgegen ihrer Absicht. Freyr war sich nicht im Klaren darüber, ob sie versuchte, ihre Attraktivität wegen des Polizeijobs zu verstecken, oder ob es einfach ihr Stil war. Normalerweise konnte er Menschen wie ein offenes Buch lesen, aber Dagný war ungewöhnlich, und diese Besonderheit interessierte ihn, auch wenn sie auf seine zaghaften Annäherungsversuche kaum reagierte. Sie schien sich bei ihren seltenen Begegnungen in seiner Nähe ebenfalls wohl zu fühlen, aber trotzdem war es schwierig, ihre Freundschaft zu vertiefen. Entweder war er bereit dazu und sie nicht, oder, was allerdings selten der Fall war, sie machte einen Vorstoß, und er bekam sofort Zweifel und zog sich zurück. Die Zweifel hatten nichts mit ihr zu tun, sondern mit ihm; tief in seinem Inneren hegte er den Verdacht, nicht gut genug für sie zu sein, zu gebrochen und gezeichnet, um sich an sie oder irgendeinen anderen Menschen zu binden. Dann wurde er wieder zuversichtlicher, und sie wich ihm aus. Es war, wie in einem Teufelskreis festzustecken.
Freyr wusste zum ersten Mal seit vielen Jahren nicht, wie er mit einem Menschen umgehen sollte, und fühlte sich an sein früheres Leben erinnert, bevor er sich auf die menschliche Psyche spezialisiert hatte. Zweifellos war das der Grund dafür, dass er sich von Dagný angezogen fühlte, aber er wollte nicht darüber nachdenken, aus Angst, die Anziehung zu zerstören. Er wandte sich von ihr ab und konzentrierte sich auf die Schrift an der Wand. Langsam schüttelte er den Kopf und stieß Luft durch den Mund aus, wie
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