Gekapert
kennen sich schon lange. Er kennt das wahre Gesicht von Vollbart und seiner Familie: ein selbstzerstörerischer Haufen, je weniger Worte man über sie verliert, desto besser für alle Beteiligten. Er ist erleichtert, daß Malik und Jeebleh ihn nicht um mehr Information bedrängen.
Die beiden sitzen gemeinsam auf der Rückbank, aber Malik ignoriert Jeeblehs Fürsorge. Wie unterschiedlich sich Menschen benehmen, denkt Jeebleh, wenn ihr Stolz verletzt worden ist. Manche schmollen und ziehen sich zurück, während andere nervös werden, die Fassung verlieren. Wenn einen kleine Sorgen unvorsichtig werden lassen, sinniert Jeebleh, führen große Sorgen vielleicht dazu, daß es einem die Sprache verschlägt. Malik hat sich in seinen Unmut richtiggehend hineingesteigert. Er tut nicht einmal so, als würde er Gumaad zuhören, der, durch das Schweigen der anderen ermutigt, so aufgeregt vor sich hinplappert, daß keiner seinen Sätzen folgen kann. Glücklicherweise hat Malik nichts gesagt, was ihm später leid tun könnte.
Da keine Unterhaltung mit Malik zustande kommt, blickt Jeebleh aus dem Fenster, angewidert von der Trostlosigkeit, die der Bürgerkrieg der Stadt beschert hat – jeder, der Mogadischu noch als »Perle des Indischen Ozeans« gekannt hat, muß so empfinden. Die Innenstadt, wo er in jedem der fünf Kinos italienische Filme im Original und andere ausländische Filme gesehen hat, ist völlig verunstaltet, die historischen Viertel sind zerstört. Kein Schmerz ist größer, als jener, den man nicht zur Gänze beschreiben kann, denkt er.
Währenddessen rollt vor Maliks geistigem Auge eine Szene aus David Leans Lawrence von Arabien ab, den er kürzlich gesehen hat; unvergeßlich der verängstigte Gesichtsausdruck Peter O’Tooles, als dieser den Verhörraum verläßt, in dem er von seinen Folterern gequält wurde. Von da an ist Lawrence ein anderer Mensch. Malik ermahnt sich, zum Wohl seines Berufs persönliche Wutgefühle zurückzuhalten. Er muß sich darauf konzentrieren, so schnell wie möglich alles Somalische in sich aufzusaugen, damit er anfangen kann, kenntnisreich und ohne Vorurteile über das Land zu schreiben.
In eine Ecke des Autos gepreßt, so weit von Jeebleh entfernt, wie es ihm auf diesem engen Raum möglich ist, schaut Malik an Jeebleh vorbei auf die verwüsteten Straßen. Wenn er ein Land besucht, das sich mitten im Bürgerkrieg befindet, schnürt ihm stets eine irre Wut den Hals zu; diesmal aber ist es unerträglich, weil es das Land seines Vaters ist – ein Land, von dem dieser Vater mit wenig Zuneigung sprach.
Maliks Eltern waren Kinder des British Empire, Sprößlinge dessen, was Lawrence von Arabien vorgeschwebt hatte. Sein Großvater väterlicherseits, ein Somalier, arbeitete als Dolmetscher und Buchhalter mit seinem Großvater mütterlicherseits zusammen, einem Chinesen aus Malaysia, der in Aden seinen Dienst ableistete. Ihre Kinder gingen gemeinsam zur Schule, verliebten sich ineinander und heirateten. Malik vermutet, daß in Somalia ein Imperium anderer Stoßrichtung am Werk ist. Die muslimische Welt steht, soweit er es überblickt, an einem Scheideweg, an dem sich mehrere konkurrierende Strömungen treffen. Einer der Wege gehört einer florierenden umma , einer Gemeinschaft der Gläubigen, gestaltet nach den Vorstellungen der Islamisten, die sich selbst als Todfeinde sowohl der gemäßigten und der säkularen Muslime als auch aller Menschen anderer Glaubensrichtungen sehen. Malik ist der Meinung, daß die radikalen Fundamentalisten einen Zusammenstoß mit Äthiopien provozieren wollen, in der Hoffnung, die muslimische Welt zum Krieg gegen das christlich geführte Land aufzustacheln, obwohl Äthiopien, militärisch stärker und Verbündeter der Vereinigten Staaten, sehr wahrscheinlich in der Konfrontation die Oberhand behalten würde. Anderswo in Südostasien messen Indien und Pakistan, zwei Staaten mit Kernwaffenpotential, ihre Kräfte. Nachdem Afghanistan zur Bühne und Tschetschenien zur Geisel der Umbrüche geworden sind, prallen die politischen und territorialen Interessen mehrerer Länder heftig aufeinander. Und natürlich ist da der endlose Konflikt zwischen Arabern und Israelis, der einen Großteil der muslimischen Welt zum Gegner des jüdischen Staates und der Vereinigten Staaten macht. Weltreiche werden nicht mehr mit der Muskete gewonnen, wie das der alte Imperialist Rudyard Kipling von Großbritannien behauptete. Ein Weltreich wird von jenen gewonnen, die die nötigen
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