Gekapert
aufzubrechen, bricht Xalan vor Anspannung beinahe zusammen. Sie dreht den Kopf weg, preßt sich die Fingerspitzen auf die Augen, selbstquälerische Fragen scheinen sie zu peinigen.
Als Warsame eintrifft, ist sie kurzatmig, und er macht sich Sorgen, es könnte sich zu einem Asthmaanfall auswachsen. Er holt den Inhalator vom Nachttisch und setzt sich neben sie, mehr in Sorge um sie als um Saifullah, den er ohnehin nie besonders leiden konnte. Er umfaßt ihren Ellbogen, zieht sie hoch und gemeinsam gehen sie zum Schlafzimmer, beide schwankenden Schrittes, denn Xalan stützt sich schwer auf ihn. Warsame verfehlt eine Stufe und stürzt beinahe.
Ahl macht sich auf die Suche nach einem Hammer oder etwas Schwerem, um das Schloß aufzubrechen. Ihm ist nicht ganz klar, wo er eigentlich suchen soll, und er kommt mit leeren Händen wieder nach oben. Dann macht er, was er schon die ganze Zeit tun wollte: Er drückt mit der Schulter gegen die Tür. Zu seinem Erstaunen gibt sie ohne großen Widerstand nach. »Er ist nicht da«, verkündet er laut.
Warsame tritt neben ihn. Die beiden Männer sehen einander an, gleichzeitig wandern ihre Blicke über das unbenutzte Bett. Wortlos treten sie ans offene Fenster. Ahl schaltet den Kassettenrekorder aus, aus dem immer noch Koransuren plärren. Xalan kommt ins Zimmer gehastet, starrt mit offenem Mund auf das Fenster und kommt ganz offensichtlich zum selben Schluß: Saifullah muß hinuntergesprungen sein. Ahl will nichts dem Zufall überlassen, streckt den Kopf zum Fenster hinaus und sucht mit den Augen den Garten nach einem Leichnam ab, schüttelt dann den Kopf. Schließlich gehen sie nach unten und diskutieren die nächsten möglichen Schritte.
»Immerhin hat er sich nicht bei uns im Haus umgebracht. Ich weiß nicht, was ich dann getan hätte«, sagt Xalan leise.
Ahl ist sich nicht sicher, was sie meint. Meint sie, sie wüßte nicht, was sie tun sollte, wenn er sich umgebracht oder wenn er in ihrem Haus Selbstmord begangen hätte? Sein Blick schweift durch das Wohnzimmer, in dem die fröhliche Stimmung verflogen ist, bleibt auf Faai ruhen, die in der Tür steht und leise vor sich hin weint.
Warsame ruft den Wachposten herein und fragt ihn, ob er einen jungen Mann das Grundstück habe verlassen sehen. Er nennt keinen Namen, beschreibt aber Saifullah genau.
Der Wachposten, in dessen rechter Backe sich ein qaat -Klumpen von der Größe eines mittleren Vogeleis wölbt, erwidert, er habe keinen jungen Mann kommen oder gehen sehen.
Xalan wendet sich ihrem Mann zu. »Was machen wir jetzt?«
Es sei Zeit, meint Warsame, sich auf die Orte und Personen zu konzentrieren, die er möglicherweise aufsuchen könnte. Ob Saifullah vielleicht zu ihrer Schwester gegangen sei. »Hat er gesagt, daß er auf dem Weg hierher bei ihr vorbeigeschaut hat?«
»Sollen wir zu ihr gehen und es herausfinden?« fragt Xalan. »Wir waren so glücklich, ihn zu sehen, daß wir tatsächlich ganz vergessen haben, ihn zu fragen, ob er sie besucht hat.«
»Schaden kann es jedenfalls nicht«, erwidert Warsame.
»Und was, wenn er nicht da ist?«
»Viel wichtiger ist doch, ob sie uns überhaupt empfängt oder ob sie uns aus dem Haus jagt«, bemerkt Warsame.
Um das Schicksal nicht herauszufordern, schweigt Ahl. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Charaktere und Einstellungen herrscht zwischen den Schwestern böses Blut. Die eine ist sehr fromm und kompromißlos, wenn es um ihren Glauben geht, die andere weltlich gesinnt. Er steht auf, bereit, Zaituuns Haus aufzusuchen, wird sich aber eines Kommentars enthalten.
Xalan ist es unangenehm, Zaituun aufzusuchen. Sie haben seit Jahren nicht miteinander gesprochen, obwohl sie in denselben Städten wohnten, zuerst in Toronto und jetzt in Bosaso. Zaituun ist gottesfürchtig, steckt ihre gesamte Energie ins Gebet. Die beiden haben sich zerstritten, weil Zaituun die lockere Einstellung ihrer Schwester nicht guthieß, meinte, wenn sie sich nicht ändere, würde sie vergewaltigt oder es stoße ihr noch Schlimmeres zu. Xalan wiederum will sich nicht mit Menschen abgeben, die der Meinung sind, sie dürfe nicht dem Islam die Schuld für das geben, was die Männer der Bürgerwehr ihr antaten, die sie in einer Moschee vergewaltigten, während drei Imame zusahen und nichts unternahmen.
Eine junge Frau läßt sie ins Haus, teilt ihnen mit, Zaituun verrichte ihr Gebet. Verärgert sieht Xalan auf ihre Armbanduhr, als wollte sie herausfinden, welches Gebet es denn sein könnte, das ihre
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