Gekapert
zurückhalten, bis Xalan wieder da sei. Kala-Saar erklärt sich einverstanden und fragt Ahl, ob sie schon eine Spur von Taxliil hätten.
»Noch nicht, aber wir hoffen darauf«, sagt Ahl.
»Taxliil ist gesund und munter«, prophezeit Kala-Saar.
Sie verstummen und warten auf Xalan.
Xalan, die ständig an »Familie« denkt, freut es riesig, wenn sich mehrere Menschen um ihren Tisch versammeln und eine von ihr zubereitete Mahlzeit essen. Sie setzt sich neben Kala-Saar, ruft Faai zu, das Radio in der Küche leiser zu stellen, damit sie sich ungestört unterhalten können.
Für einen Mann, der eigentlich gar nichts essen wollte, hat es Kala-Saar sehr eilig, Xalans Festmahl in Angriff zu nehmen, das aus mehreren Gemüsesorten und allen möglichen Fleisch- und Fischgerichten besteht. Vielleicht ist Kochen für Xalan ein Weg, ihrer Verzweiflung Herr zu werden.
Kala-Saar nimmt einen Schluck Wasser und verzieht das Gesicht. Er zitiert aus Yusuf al-Khals Buch »Gebete im Tempel«, in dem der libanesische Dichter über einen Stein schreibt, der spricht und zu Brot und dann zu Wein wird: »Auf diesem Tisch ein bedauerlicher Mangel, das Fehlen eines guten Glases Wein.«
»Wenn man Saifullahs und Taxliils Verschwinden in einen größeren Zusammenhang einordnet«, hebt er an, »scheint mir dies ein Verhalten zu sein, das Teil der veränderten Einstellung der jungen Generation ist. Als Eltern sind wir im Unrecht. Als Erwachsene sind wir kein Vorbild. Als Lehrer sind wir kein Beispiel für unsere Studenten. Wir, die wir uns für gebildete, säkulare Menschen halten, sind schuldig, der jüngeren Generation keine Inspiration zu sein, und sie reagiert auf unser Versagen, indem sie gegen alles rebelliert, wofür wir bisher gestanden haben. In den frühen Neunzigern schlossen sich viele Jugendliche den verschiedenen Clanmilizen an, töteten und starben im Dienst der Warlords. Seit kurzem suchen sie ihre Vorbilder woanders, haben sie in Imamen und Gurus aus anderen Ecken der Welt, in anderen Kulturen gefunden. Manche sind ganz vernarrt in dub poets , von denen die meisten von uns nicht viel halten. Der Protest der Jungen ist so scharf, weil wir als Erwachsene und als Lehrer mit ihnen nicht offen umgegangen sind.«
»Und was hat die Verweigerungshaltung aus ihnen gemacht?« fragt Ahl.
»Manche sind Terroristen, andere Aufständische geworden«, antwortet Kala-Saar.
»Was ist der Unterschied zwischen einem Terroristen und einem Aufständischen?« will Ahl wissen.
»Die Terroristen massakrieren Unschuldige vorsätzlich, wohingegen der Widerstand der Aufständischen gegen die äthiopische Besatzung ihre Gegner, will sagen die Äthiopier oder Somalier, die im Namen der Vereinigten Streitkräfte kämpfen, dazu zwingt, Unschuldige umzubringen, auch wenn sie dies gar nicht wollen.«
»Ich sehe keinen Unterschied zwischen diesen Schlächtern«, sagt Warsame.
»Wie würden Sie die Al-Schabaab bezeichnen?« fragt Ahl.
»Die Al-Schabaab sind Terroristen, denn sie zerstören, statt aufzubauen, messen einem Menschenleben eine andere Bedeutung bei als wir«, sagt Kala-Saar. »Dennoch sind sie für mich wahre Rebellen, denn sie lehnen die Besatzung ab, bekämpfen sie mit allen möglichen Mitteln. Bedauerlicherweise liegt es in der Natur des Kriegs, Unschuldige zu töten.«
»Was ist mit den Frauen?« fragt Xalan.
»Was soll mit ihnen sein?« fragt Kala-Saar zurück.
»Glaubst du, daß sich nur die Jugend zu einer ›Bewegung der Unzufriedenen‹ zusammenschließt?«
»Das tut sie zweifellos«, sagt Kala-Saar.
»Wozu führt Ihrer Meinung nach diese Verbitterung letztendlich?« fragt Ahl.
»Letztendlich zu Selbsthaß.«
»Der wiederum zu was führen wird?« will Ahl wissen.
Kala-Saar senkt Löffel und Gabel, läßt sich Zeit, kaut gedankenvoll. Er starrt Ahl lange an, dann wandert sein Blick zu Xalan, und er grinst zufrieden, wie jemand, der die Antwort auf eine sehr knifflige Frage gefunden hat. »Um den französischen Philosophen Bruno Etienne zu paraphrasieren, diese Art Selbsthaß führt dazu, daß ein Land Selbstmord begeht und der einzelne, der sich umbringt, zur Metapher der Todeskultur wird.«
Das Schweigen, das sich nun ausbreitet, ist für Ahl das Zeichen, daß niemand Kala-Saars Aussage verstanden hat, dennoch bittet ihn niemand, sie näher zu erklären. Alle widmen sich mit verstärkter Aufmerksamkeit dem Essen.
»Was ist mit uns Frauen?« fragt Xalan wieder. »Empören sich Frauen nicht stärker als je zuvor gegen die
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