Geködert
wirken. Aber ich hatte Jim nie beneidet. Cindy war mir zu schlau und intrigant, und ich konnte nicht gut mit ihr umgehen.
Ich fand sie in einem Zimmer im zweiten Stock des Hotels. Sie saß rauchend auf dem Bett. Neben ihr stand ein Tablett mit einer Teekanne, Milch und einer Tasse – nur einer – und ein großer Martini-Aschenbecher voller Zigarettenstummel, deren Mundstücke mit Lippenstift beschmiert waren. Cindys Anstrengungen, sich das Rauchen abzugewöhnen, waren offenbar vergeblich gewesen. Sie fragte, was ich trinken wollte. Ich hätte ablehnen sollen, bat aber um einen Scotch und gab ihr die Schachtel mit den Grabinschriften und den Ansätzen zu deren Entzifferung oder vielmehr, ich versuchte, sie ihr zu geben. Sie wies sie mit einer müden Handbewegung zurück. »Ich will das Zeug nicht.«
»Gloria hat mir gesagt …«
»Ich habe es mir anders überlegt. Du kannst es behalten.«
»In dieser Schachtel ist nichts, was über Jim oder seine Arbeit irgendwas aussagt«, meinte ich, »darauf wette ich meinen Kopf.«
Sie zuckte mit den Achseln und strich sich übers Haar.
Wir verschwendeten viel Zeit auf die Überredung des Hotelpersonals, uns die Getränke zu bringen, und während wir warteten, unterhielten wir uns über nichts Besonderes. Einen angenehmen Abend stellte ich mir anders vor. Den Ort hatte Cindy bestimmt: das Grand & International, ein heruntergekommenes, altes Hotel am Nordrand der Kensington Gardens, hinter den chinesischen Restaurants von Queensway versteckt.
Sie hatte das Zimmer im voraus bezahlt mit der Erklärung, dass sie ohne Gepäck einzuziehen beabsichtige, da sie dort nur etwa eine Stunde lang mit einem Herrn zu reden haben würde. Ich betrachtete sie in ihrem schicken Kostüm aus schwarzgrünem Schottenkaro. Ein dicker Mantel aus synthetischem Pelz war über das Bett geworfen. Sie war nicht groß und anmutig wie Gloria, aber ihre Figur konnte sich sehen lassen, und wie sie da auf dem Bett lagerte, ließ sie ihre Figur sehen. Ich fragte mich, was die Leute am Empfang unten von ihr hielten. Oder sparte sich das Hotelpersonal in dieser Gegend Vermutungen über die Gäste?
Das Zimmer war sicherlich eines der besten des Hotels, aber trotzdem ein schmutziges Loch. Über einem von mehreren Sprüngen durchzogenen Waschbecken aus blauem Porzellan hing ein Spiegel voller Fliegendreck. Das Bett war groß, mit gepolstertem Kopfbrett und grauen Laken. Cindy sagte, es sei hier angenehm anonym, aber ich glaube, sie verwechselte Anonymität mit Unbequemlichkeit wie viele Leute. Falls die Lage des Grand & International – der Doppelname des Hotels erinnerte an einen Anspruch, den dessen Gründer vor annähernd einem Jahrhundert vielleicht allen Ernstes erhoben hatten – für Cindy eine Garantie darstellte, keine Bekannten zu treffen, von mir konnte ich das nicht behaupten.
Ich war schon oft hier gewesen. 1974 hatte ich eine wunderschöne alte Sauer-Automatik in die Bar mitgebracht. Ich hatte sie einem Mann namens Max verkauft, der mir dann während meines letzten illegalen Grenzübertritts das Leben rettete und seins verlor. Die Pistole war ein Schatz, ein bisschen verkratzt, aber nicht oft gebraucht. Die Doppelmechanik dieses Modells war damals die beste, die zu haben war. Ich nehme aber an, dass Max eine Sauer haben wollte, weil im letzten Krieg die höheren deutschen Offiziere diese Waffe bevorzugten. Max war zwar nicht für die Nazis gewesen, im Gegenteil, aber dass sie was von Waffen verstanden hatten, bezweifelte er nie.
Es verging kaum ein Tag, an dem ich nicht an Max dachte. Wie Dodo war er einer von »Kobys Preußen« gewesen, ein Preuße amerikanischer Abstammung freilich. Max war einer jener seltsamen Männer, die sich von Ort zu Ort, von Job zu Job treiben lassen und, wo immer sie landen, in schwierige Situationen kommen und Jobs annehmen, die meist nicht nur gefährlich, sondern auch mehr oder weniger illegal sind. Aber Max, ein ehemaliger New Yorker Kriminalbeamter, war anders als die andern: stets kameradschaftlich besorgt um jeden, mit dem er zusammenarbeitete, und besonders um mich, den Jüngsten seiner Mannschaft in Berlin.
Max hatte ein ganz erstaunliches Gedächtnis für Verse, und er zitierte alles mögliche von Goethe bis zu den Liedertexten von Gilbert & Sullivan. Als Amerikaner wusste er nicht immer, wovon Gilbert & Sullivan redeten, und da ich der einzige Brite in seinem näheren Bekanntenkreis war, erwartete er von mir Aufklärung über manche dunklen und typisch britischen
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