Geliebte Diebin
seine Hand zur Faust und öffnete sie wieder. Dann schüttelte er den Kopf, als sei er nicht bereit oder nicht willens, ihr auch noch den Rest zu verraten. Er wandte den Kopf ein wenig. »Geneva«, rief er, »bist du hier?«
Apryll fühlte ein Prickeln in ihrem Nacken, die kleinen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf. Es war, als hätte sie den Atem von Satan höchstpersönlich gefühlt.
Geneva kam mit leisen Schritten hinter einem Pfeiler hervor, wo sie nac h Apry lls Vermutung die ganze Zeit gestanden und*gelauscht hatte - auf Paytons Geheiß.
Sie zählte ungefähr zwanzig Jahre, war groß und schlank und trug ein verwaschenes grünes Kleid. Ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck unterwürfigen Ernstes. Sie sah Apryll mit ihren blassen, wasserblauen Augen an. Ihre Haut zeigte keinerlei Falten, sie war so weiß, dass sie beinahe durchscheinend wirkte.
»M'lady«, sagte sie und verbeugte sich ein wenig.
»Was weißt du davon?«, fragte Apryll sie, doch Geneva sah Payton an.
»Ihr wolltet ihr die Wahrheit sagen, Sir Payton.« Aus ihrer klaren, tiefen Stimme klang ein Tadel.
Paytons Adamsapfel hüpfte auf und ab. Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen. Der Wind pfiff und die Kohlen im Feuer glimmten auf.
»Was ist los?«, begehrte Apryll nun nervös zu wissen. Ein eisiger Hauch schien in ihren Körper einzudringen und sie wusste sofort, dass das, was auch immer die Zauberin zu sagen hatte, ihr nicht gefallen würde. Als Payton nicht antwortete, wandte sie sich an Geneva. »Erzähl du es mir.«
Geneva z ögerte ein paar Sekunden lang.
»Sofort«, befahl Apryll. »Was hast du gesehen?«
Geneva zog ihre schmalen Augenbrauen hoch. Sie sah Apryll direkt in die Augen. »Damit in Serennog wieder Frieden und Reichtum herrscht«, erklärte sie, »werdet Ihr den Lord von Black Thorn heiraten.«
Aprylls Blut verwandelte sich zu Eis. »Niemals«, flüsterte sie mit einer rauen Stimme, die der ihren so gar nicht ähnlich war. Ihr Magen verknotete sich protestierend, als sie an den mächtigen, grüblerischen Baron dachte und an die Gerüchte, die über ihn verbreitet wurden. Grausam. Ohne Herz. Lord Devlynn von Black Thorn wurde eher gefürchtet als geliebt, in ganz Wales war er wegen seines unbeugsamen Willens bekannt. »Hat er nicht seine erste Frau und sein ungeborenes Baby umgebracht?«
»Niemand weiß das genau.« Genevas Gesicht blieb ausdruckslos.
Der Wind schien nachgelassen zu haben. Aprylls Herz schlug wild. »Und dennoch glaubst du, dass ich zustimmen würde, ihn zu heiraten?« Es war absurd. Sie schüttelte den Kopf und fragte: »Payton? Du hast davon gewusst?«
Er nickte steif. Dann schnippte er mit den Fingern, damit noch mehr Wein gebracht wurde.
»Hier geht es nicht darum, die Wahl zu haben«, erklärte Geneva mit ruhiger Überzeugung , während sie näher trat und Apryll wieder einmal von den bezwingenden Augen gefangen wurde. »Es geht hier um das Schicksal, M'lady. Um Euer Schicksal.«
1
Wald von Black Thorn
Dezember 1283
»Fröhliche Weihnachten«, murmelte Lord Devlynn ohne den Anflug eines Lächelns. Er warf einen Mistelzweig auf das Grab, in dem seine Frau und seine ungeborene Tochter lagen. Er konnte die Reue nicht ignorieren, die ihm schwer auf der Seele lag und auch nicht die Bitterkeit, die sich in seinem Herzen festgekrallt hatte. Er starrte auf den grauen Grabstein, fühlte nach dem Rosenkranz in seiner Tasche, doch kam ihm kein Gebet in den Sinn, mit dem er die Vergebung Gottes hätte erbitten können.
Ein heftiger Dezemberwind, der Schnee versprach, fauchte über die Hügel. Gefrorene Grashalme knirschten unter seinen Stiefeln. Zwei Pferde scharrten ungeduldig mit den Hufen auf dem Boden. Auf dem Braunen saß sein Bruder, die Hände in den Handschuhen hat er auf den Sattelknauf gelegt, sein Gesicht, das von beinahe jeder Frau in der Grafschaft als gut aussehend beschrieben wu r de, hatte einen leicht spöttischen Ausdruck. »Komm schon M'lord«, forderte Collin. »Lass die Geister Endlich hinter dir und die Toten dort, wo sie hingehören. Leben ist wichtiger. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt zur Rückkehr. Ob es dir nun gefällt oder nicht, die Festtage stehen vor der Tür. Schon bald wird das Schloss erfüllt sein von Gästen, Gelächter und Feierlichkeiten.« In der anbrechenden Dunkelheit bedachte ihn Collin mit einem leicht schiefen Lächeln, das sonst stets das Eis um das Herz der Mädchen zu brechen pflegte. »Es ist an der Zeit, die Vergangenheit zu vergessen,
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