Geliebter Lord
konzentrierte sich ganz auf ihre Arbeit. Das war bedeutend einfacher, als in die Augen zu blicken, die sie, wie sie spürte, unablässig beobachteten.
»Tut es weh?«, fragte sie, als sie seinem Arm schließlich Ruhe gönnte.
»Weniger als am Anfang.«
Sie strich wieder etwas Kampfersalbe auf seine Haut und massierte den Arm erneut.
»Ich glaube, ich sollte mir Eure Brust ansehen. Ihr seid zusammengezuckt, als ich Euch dort berührte.«
Er sah sie schweigend an.
»Würdet Ihr Euer Hemd ausziehen?«, bat sie mit ruhiger Stimme.
Noch immer schweigend, knöpfte er es auf. Als er fertig war, half sie ihm, es von den Schultern zu streifen, und lehnte sich zurück.
Der Anblick seiner entblößten Brust war so erschreckend, dass sie die Zähne in die Unterlippe grub, um nicht aufzuschreien.
Kapitel 8
S ie wusste, dass er sie beobachtete, und sie beglückwünschte sich für ihre Erfahrung mit erschreckenden Bildern.
Gib mir Kraft.
Ein oft gen Himmel geschicktes Stoßgebet, und jetzt hallte es wie ein nicht endendes Echo durch ihren Kopf.
Blaue, grüne und zinnoberrote Schnittnarben verunstalteten seine Brust. Eine tiefschwarze Naht betonte die Leuchtkraft der vielfarbigen Linien und Wirbel noch. Je länger Mary auf dieses Muster starrte, umso klarer erkannte sie eine Form. Die eintätowierte Darstellung eines Mannes.
Nein, nicht einfach nur eines Mannes. Einer bizarren Gestalt, die ihre Arme nach Hamishs Armen ausstreckte und um deren Taille Hamishs Hosenbund lag. Als hätte man versucht, Hamish durch dieses Bildnis zu ersetzen – ihm sein Wesen zu rauben.
»Wer ist das?« Vorsichtig berührte sie mit der Fingerspitze das Bild. Das Muster war so kompliziert, dass es Tage gedauert haben musste, es fertigzustellen, wenn nicht Wochen. Die Farben waren tief in die durchtrennte Haut eingebracht worden.
»Der tanzende Shiva«, antwortete er mit ausdrucksloser Stimme.
Sie hob den Blick. »Shiva?«
»Der Hindugott der Zerstörung und Schöpfung als König der Tänzer und Herr des Universums. Alles wird von Shiva erschaffen und von Shiva zerstört. Er ist das Gute und das Böse in einer Person.«
Langsam zog sie die Hand zurück.
»Wie haben sie das gemacht?«
Er ließ ihren Blick nicht los. »Zuerst ritzten sie die Haut mit Messern«, erklärte er so ruhig, als zähle er die Ingredienzien einer Arznei auf. »Bevor die Schnitte zuheilen konnten, gab man Farbstoffe hinein. Die Details wurden mit langen ahlenartigen Kupfernadeln eingestochen, die mit Farbstoff und Säure präpariert waren. Die Prozedur war äußerst schmerzhaft. Während Shiva zum Leben erwachte, glaubte ich, langsam dem Tod entgegenzugehen.«
Übelkeit stieg in Mary auf. »Das ist ja grauenhaft.«
Er lächelte sie an, und sie glaubte so etwas wie Zuneigung in seinem Ausdruck zu erkennen.
»Ist das der Grund für Eure Schlafprobleme?«
»Nein.«
Mary stand auf und trat hinter ihn. Die Rückenansicht des Gottes war ebenso detailliert ausgeführt. Auf Hamishs einer Schulter prangte in leuchtendem Gelb, Orange und Schwarz das Bild eines fauchenden Ungeheuers.
Sie zeichnete mit dem Finger den Kopf des Tieres nach. »Was ist das?«
»Ein Tiger. Wie Ihr seht, bin ich ein wandelndes Zeugnis der Kunstfertigkeit meiner Folterer. Sie benutzten mich sozusagen als Übungsobjekt – meinen Körper für ihre Tätowierungen und mein Gesicht und den Arm für ihre Form der Folterung.«
»Warum taten sie das? Warum töteten sie Euch nicht einfach?«
Sie wrang das Tuch neuerlich aus und breitete es über die Narben. Dabei kam sie Hamish so nahe, dass ihre Röcke die Beine des Stuhls verdeckten, auf dem er saß. Ihr Ärmel streifte seinen nackten Rücken. Die Hitze, die sein Körper aussandte, empfand Mary als so angenehm, als wäre er ein Kohlenbecken und sie ganz durchgefroren.
»Sie wollten einen Engländer demütigen – und wer eignete sich besser dazu als der Kapitän eines Schiffes? Ich war die Verkörperung all dessen, was sie zu verabscheuen gelernt hatten – ein Fremder, der in ihr Land einfiel.«
»Aber Ihr seid doch gar kein Engländer. Warum habt Ihr ihnen das nicht gesagt?«
Sein unfrohes Lachen hallte von den Wänden wider.
»Wir sprachen nicht dieselbe Sprache. Was ich über Shiva weiß, erfuhr ich erst im Nachhinein. Aber selbst wenn ich ihnen hätte sagen können, dass sie einen Mann aus Nova Scotia gefangen genommen hatten, der die Engländer genauso hasste, wie sie es taten – ich glaube nicht, dass sie mich freigelassen hätten.
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