Geloescht
an zu weinen und vergrabe mich in Bens Armen. Er hält mich fest und streicht mir übers Haar, während die ganze Zeit der Regen auf uns niederprasselt. Es windet stark, und es kommt mir vor, als tobte sowohl um mich herum als auch in meinem Innern ein Sturm.
»Wie kannst du das wissen?«, fragt Ben nach einer Weile.
Als die Tränen nachgelassen haben, erzähle ich ihm von dem illegalen Computer, der Webseite mit den Vermissten und von Lucy. Und langsam kann ich erkennen, dass er anfängt, mir zu glauben.
»Das verstehe ich nicht«, sagt er. »Was für Vermisste?«
»Viele Menschen verschwinden. Sie werden nicht verhaftet und verurteilt, sie verschwinden einfach so. Vielleicht sind wir nicht mal Kriminelle.«
Ben schüttelt den Kopf. »Das können sie nicht machen, das ist illegal. Wie kann die Regierung ihre eigenen Gesetze brechen?«
»Vielleicht haben wir nichts falsch gemacht, sondern die Regierung hat einfach nur beschlossen, dass ihnen irgendetwas, was wir gesagt oder getan haben, nicht gefällt. Willst du nicht wissen, ob du auch als vermisst gemeldet worden bist?«
Auf Bens Gesicht zeichnet sich Verwirrung ab. Er setzt zum Sprechen an, aber ich hebe eine Hand. »Warte«, sage ich und drehe den Kopf. Wegen des Windes und des Regens kann man kaum etwas hören, aber ich nehme plötzlich Schritte und keuchendes Atmen wahr. Kommt da jemand den Hügel hoch?
Eine Gestalt erscheint auf dem Plateau. Ich möchte aufspringen, aber Ben hält mich zurück. Es ist einer der Jungs aus dem Training â er grinst uns zu und rennt vorbei.
Ben lässt mich los und ich fahre auf. »Warum hast du mich festgehalten?«
»Er hätte uns sowieso gesehen. Besser, er denkt, dass wir kuscheln, als dass wir ein gefährliches Gespräch führen.«
Kuscheln.
Haben wir das wirklich getan oder war es einfach nur eine Ausrede? Mein Gesicht brennt trotz der Kälte. Ich drehe mich um, weil ich wieder etwas höre â überholt uns noch jemand?
»Lass uns laufen«, sagt Ben, und ohne eine Antwort abzuwarten, rennt er mit vollem Tempo voraus.
Ich folge ihm und versuche, ihn einzuholen. Aber ich schaffe es nicht â er muss sich vorhin zurückgehalten haben. Seine Schritte werden länger und bald ist er auÃer Sichtweite. Es wirkt fast so, als ob ihn etwas jagt â etwas, dem er sich nicht stellen will.
Doch das bin nur ich.
Phoebes Bild mit dem Rotkehlchen ist vorn an die Wand im Kunstraum gepinnt. Sonst hängt da nichts. Unsere Arbeiten werden immer an den Seitenwänden befestigt, aber niemals vorn. Phoebe hat ihr Werk nicht signiert, und niemand auÃer uns kann wissen, wer es gemalt hat. Anstatt uns direkt auf unsere Plätze zu scheuchen, ist Mr Gianelli dieses Mal mucksmäuschenstill, während wir den Raum betreten und unsere Karten scannen. Es ist unsere erste Stunde, seit Phoebe abgeholt wurde. Alle sehen beim Eintreten sofort Phoebes Bild und verstummen augenblicklich.
Mr Gianelli muss wissen, dass wir nicht allein sind. Ich schaue Richtung Tür: Mrs Ali wartet dort. Sie begleitet mich immer noch zwischen den Unterrichtsstunden, obwohl ich die Wege längst kenne, und behält mich die ganze Zeit im Auge. Ich frage mich, wie lange das noch so bleibt. Ben und Amy klebt doch auch nicht ständig jemand an den Fersen.
Mrs Ali lässt den Blick durch den Raum schweifen. Sie spürt, dass etwas im Gange ist, und mustert alle Gesichter. Sie bleibt.
»Heute möchte ich, dass ihr euch über etwas Gedanken macht: wie ihr eine Verbindung mit dem Objekt herstellt, das ihr zeichnet. Nehmen wir mal unseren rotbrüstigen Freund hier. Erkennt ihr die Sorgfalt, mit der er aufs Papier gebracht wurde, die Verbindung zwischen Objekt und Künstler? Ein normaler Augenblick wird erweitert, dringt ins Innere des Künstlers vor. Die
Kommunikation
zwischen dir und deinem Motiv ist wichtig. Es ist ein Geben und Nehmen. Die Art, wie man sein Objekt wahrnimmt, so wie es sonst niemand kann«, beginnt Mr Gianelli.
Er tritt zurück, damit wir das Bild betrachten können. Alle Augen ruhen jetzt auf Phoebes Zeichnung. Ich denke an das Rotkehlchen, das ihr vertraut hat und immer näher zu ihr gehüpft ist. An Phoebes Lächeln, während sie es gezeichnet und ihm etwas zugemurmelt hat. Sekunden vergehen und werden zu einer Minute des Schweigens, dann zu zwei.
Mr Gianelli schüttelt traurig den Kopf und stellt
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