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Geloescht

Geloescht

Titel: Geloescht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Teri Terry
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sich wieder vor die Klasse.
    Â»Heute zeichnet ihr einen Menschen oder einen Gegenstand, der euch am Herzen liegt oder der euch etwas
fühlen
lässt. Es ist egal, ob es sich dabei um gute oder schlechte Gefühle handelt. Los, fangt an.«
    Er lässt sich auf das Lehrerpult plumpsen. Alle machen sich an die Arbeit, aber langsam und unauffällig. Papier wird geglättet, Bleistifte und Kreiden ausgewählt. Als ob alle aus einem Traum oder aus Trance erwacht seien.
    Ich beuge mich über meine weißen Blätter. Aus dem Augenwinkel beobachte ich Mrs Ali, die nachdenklich und verwirrt vor sich hin starrt. Dann geht sie.
    Gianelli sieht heute älter aus als sonst, die Falten um seine Augen sind tiefer geworden. Seine Haut ist so grau wie sein Haar. Ein stiller Protest, weil eine seiner Schülerinnen weggebracht wurde – aber wir alle wissen, was er gerade getan hat, und sind uns des Risikos bewusst, das er damit eingegangen ist. Ich sehe, wie er einen Flachmann aus der Tasche zieht und etwas Alkohol in seinen Tee gießt. Dann beginnt er selbst zu zeichnen.
    Ohne eine Minute zu überlegen, greife ich meinen Stift mit der linken Hand und drehe mich ein wenig auf meinem Stuhl, damit ich die Tür im Blick habe, falls Mrs Ali zurückkommt.
    Einen Menschen zeichnen, der mir am Herzen liegt, der mich etwas
fühlen
lässt …
    Ich werfe schnelle, glatte Striche auf das Papier. Es entsteht ein Motiv, an dem ich mich noch nie zuvor versucht habe, aber mit meiner linken Hand muss ich auch nicht groß herumprobieren: Es stimmt von Anfang an. Seine nachdenklichen Augen, sein starkes Kinn, die dunklen Haare, die hinter den Ohren eher wellig als lockig sind: Ben.
    Wo bist du?
Heute Morgen war er nicht in Bio. Vor Sorge beiße ich mir so sehr auf die Lippen, dass es wehtut. Er hat doch hoffentlich nichts Dummes angestellt? Ich habe mich bei Miss Fern nach ihm erkundigt, aber sie wusste auch nicht mehr als ich. Ich bin sicher, dass sie mir nichts vorgespielt hat, denn sie war weder besorgt noch distanziert. Ich verstehe langsam, dass es verschiedene Arten von Lehrern gibt. Miss Fern, Gianelli und der Lauftrainer Ferguson: Sie sind authentisch. Ich werde ab und zu von ihnen zurechtgewiesen, sie sind nicht immer übermäßig nett, aber sie reden offen mit mir und nehmen mich wahr und ernst. Und dann gibt es diejenigen wie den Direktor Mr Rickson, Dr. Winston, die Schulpsychologin, und Mrs Ali, die trotz ihres Lächelns und des »Ich bin nur hier, um dir zu helfen«-Gelabers eigentlich nur darauf warten, dass ich einen Fehler mache oder die Regeln breche.
    Als es klingelt, schrecke ich auf. Die Zeit ist wie im Flug vergangen. Ich lege meinen Stift weg, als Mrs Ali an die Tür klopft. Gianelli sammelt die Bilder ein und hängt sie um das Rotkehlchen herum auf. Als er bei mir ankommt, sage ich: »Tut mir leid. Ich bin noch nicht fertig.« Er blickt auf die Zeichnung und sieht, dass sie fertig ist. Aber er sagt nichts, sondern geht einfach zum Nächsten. Ich packe sie weg.
    Dann schaue ich mir die anderen Entwürfe an. Es ist ein Meer von Gesichtern zu sehen: Gesichter, die uns wichtig sind. Manche zeigen wahrscheinlich Mütter, Väter, einen Bruder, eine Schwester oder Freunde. Eines ist von einem Hund.
    Mrs Ali erscheint neben mir und beugt sich zu mir herunter. »Lass mal sehen«, fordert sie mich auf und ich öffne meine Mappe. Sie starrt auf meine Zeichnung von Ben, hebt eine Augenbraue und ich werde rot.
    Sie betrachtet das Bild genau. »Es ist ein ziemlich gutes Porträt von Ben«, meint sie schließlich.
    Es ist besser als gut. Es sieht nicht einfach nur aus wie er, ich habe ihn genau getroffen, besonders seine Augen. Sie spiegeln etwas von seiner Persönlichkeit, das ich nicht teilen möchte. Die Art, wie er mich gestern angesehen hat, gerade als ich dachte, dass er mich vielleicht küssen würde, und ich zurückgewichen bin. Ehe ich ihm von den Vermissten erzählt habe und von Lucy. Ehe er weggerannt ist.
    Wir gehen zur Tür. Gianelli hängt gerade seine eigene Zeichnung auf. Das hat er noch nie getan – uns etwas gezeigt, das er selbst gemalt hat. Alle, die noch im Raum sind, betrachten das Bild und halten den Atem an: Es ist Phoebe. Er hat eine Seite von ihr eingefangen, die ich nicht kannte. Die Wut ist verschwunden. Ihr Gesicht, die Art, wie sie allein dasteht – alles an ihr ist unglaublich traurig. Mrs Alis Augen

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