Gemischte Gefühle
TAGESZEITUNG
22
„… übertragen wir live“, brüllte Luster, der Livemann, durch das Treppenhaus und schnitt verzerrte Grimassen, um Robby zu veranlassen, den Scheinwerfer in die richtige Position zu bringen. Endlich überflutete kaltes Licht das modrig riechende Treppenhaus, riß die schiefen, ausgetretenen Stufen und die feuchten Wände mit dem abblätternden Verputz aus der ewigen Dämmerung. Don the Dope huschte aus der Wohnung der Witwe Rumberger und geriet ganz zufällig in den Bereich des Aufnahmeobjektivs, strich eine blau gefärbte Locke aus den Augen und brachte das Cover der neuesten LP von Pete Paranoia & his Nightmares vor die Linse.
„Was ist das?“ entfuhr es Luster. „All what I want is a nuclear bomb“, las er dann mit gerunzelter Stirn und begriff erst jetzt, was sich dort vor ihm abspielte. „Hubert! Schaff mir den Kerl weg!“
Kurz lieferten sich der Aktionskünstler vom Holunderberg und der Superstar der Nightmares einen erbitterten Kampf, und dann gelang es Hetschneider, seinen Widersacher in die Knie zu zwingen und zurück in Witwe Rumbergers Wohnung zu zerren. „Das ist Freiheitsberaubung“, zeterte Don the Dope. „Und Geschäftsschädigung. Das ist also der Dank für meine Gratis-Session während der Demo und …“ Seine Stimme wurde zu einem Flüstern, und Robby entspannte sich, zog heftig an der Acapulco-Gold und wartete darauf, daß Luster mit der Sendung begann.
Der Livemann wischte sich einen Schweißtropfen von der massigen Stirn und murmelte etwas in sein Mikrofon. Luster war groß und behäbig, stark genug, um die Videokamera samt der miniaturisierten Übertragungsanlage ohne Mühe zu schleppen. Soweit Robby wußte, arbeitete Luster hauptsächlich für die vier alternativen und nichtkommerziellen TV-Stationen der Stadt, verkaufte seine Berichte aber auch an interessierte Sender in der ganzen Republik und der EG. Dies gab ihm genügend finanziellen Spielraum, um seit Tagen über den Kampf der Bürger gegen Baumafia- Initiative zu berichten, und die Bewegung hatte es zu einem großen Teil ihm zu verdanken, daß der republikweite Druck auf Nowossny, Pfeife und Mitverschwörer stetig zunahm.
„Okay“, quetschte Luster hervor, schaltete an seiner Videokamera und nickte dann Robby, der Witwe Rumberger, Hubert Hetschneider und Terrier Protkop samt Anhang bedeutungsvoll zu. „Sendung läuft.“ Dann straffte er sich, schien nichts mehr von der Last der komplizierten technischen Ausrüstung zu bemerken und sprach mit sonorer, sympathischer Stimme in das Mikrofon.
„Und hier, liebe Leute, meldet sich wieder Livemann Luster über Alternativ-TV von einem Brennpunkt des politischen Geschehens, vom Ruhrstädter Holunderberg, wo eine mutige Bürgerinitiative einen verzweifelten Kampf gegen Bodenspekulanten und Bauhyänen ficht. Noch ist ein Ende der Auseinandersetzung nicht abzusehen, noch schwebt die Drohung des polizeilichen Räumungsbefehls über den vielen hundert Bewohnern des Holunderberges, noch steht die entscheidende Konfrontation – mündige Bürger gegen obrigkeitsstaatliche Machtanmaßung – bevor. Liebe Leute, Sie sehen, mit welchen Methoden die Wobau die Bewohner der Holunderberger Altstadt vertreiben will. Sämtliche Gebäude wurden bewußt vernachlässigt, degenerierten zu Ruinen, wo die Phrase vom ‚menschlichen Wohnen’ zu einer Farce verkam. Liebe Leute, diese mutigen Menschen hier kämpfen stellvertretend für uns alle gegen die Macht der Spekulanten, gegen Preistreiberei, gegen den Abbruch billiger Wohnviertel und für ein Recht auf ausreichenden Wohnraum.
Vor mit steht Robert Warschinzki, ein Mitglied der Bürger gegen Baumafia -Initiative und selbst ein Betroffener. Robert, wie schätzen Sie die Lage ein?“
„Ernst, aber nicht hoffnungslos“, erklärte Robby würdevoll und war der Acapulco-Gold dankbar, daß sie seine Aufregung dämpfte und ihn mit einer lässigen Selbstverständlichkeit in die bedrohliche gläserne Kälte des Objektivs blicken ließ. „Man hat sich verrechnet. Wir geben nicht nach. Wir sind friedliche Bürger, aber wir lassen uns nicht vertreiben. Unsere Anwälte versuchen derzeit, eine einstweilige Verfügung gegen den Räumungsbefehl zu erwirken.“
Die Witwe Rumberger fuchtelte mit ihrem abgesägten Besenstiel. „Wir verlangen nicht Abbruch, sondern Sanierung. Schauen Sie sich diese Bruchbude an. Nowossny hat alles verkommen lassen. Und dieser Grabbert, dieser Hausverwalter, kümmerte sich einen Dreck um unsere
Weitere Kostenlose Bücher