Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg
beispielsweise, dass ein Drittel der Meere überfischt ist, dass der weltweite Wasserverbrauch rasant steigt, dass in Deutschland immer mehr Menschen trotz Arbeit unter die Armutsgrenze rutschen und dass es einen weltweiten Milliardärsboom gibt.
Wir bezahlen also einen Lebensstil, der uns aufgrund unseres Sozialstresses noch nicht mal mehr einen Zuwachs an Zufriedenheit beschert, mit der Zerstörung unserer Umwelt, einer Gefährdung unseres sozialen Friedens und der permanenten Gefahr von Wirtschaftskrisen. Ist es da nicht tatsächlich an der Zeit, darüber nachzudenken, ob es nicht andere Lebensziele gibt als mein Haus, mein Boot, meine Flasche Moët & Chandon? Es ist empirisch belegt, dass nach Befriedigung der Grundbedürfnisse jeder weitere Konsum die Zufriedenheit nur geringfügig steigert – egal, wie viel man verdient und konsumiert: Denn es gibt immer noch andere, die noch viel mehr verdienen und noch mehr ausgeben können. Es zählt nicht die absolute, sondern die relative Benachteiligung. Und es ist nun mal so, dass die meisten Menschen unmöglich mehr als die meisten Menschen verdienen können. 162
162 Amitai Etzioni: Eine neue Charakterisierung des guten Lebens, S. 332
Als ich begann, über die Frage nachzudenken, warum ich nicht selbst den Wohlstand erzeugen kann, in dem ich aufgewachsen bin, warum ich mir nicht die Konsumgüter leisten kann, die mir für ein erfolgreiches Leben unabdingbar schienen, da waren die entscheidenden Denkimpulse Gefühle, nämlich Angst, Wut und Scham. Angst davor, sozial abgehängt zu werden, Wut und Scham darüber, dass das so ist. Diese Gefühle sind aus dem Eindruck des Ungenügens entstanden. Ich habe den medialen Glücks- und Erfolgsimperativ unserer Gesellschaft so ernst genommen, dass ich mich an ihm gemessen und anschließend daran aufgerieben habe, ihm Genüge zu tun. Während des Nachdenkens über die Fragen, warum ich mich ungenügend fühle, welche historischen Voraussetzungen dieses Gefühl hat, in welcher Weise es durch die Veränderungen der Gegenwart geprägt wird und wie ich damit umgehen kann, hat sich etwas in mir geändert. Zuerst, weil ich darüber geredet habe, weil ich das Schweigen der Scham gebrochen, mich anderen Menschen mitgeteilt und erfahren habe, dass es ihnen in vielerlei Hinsicht nicht besser geht, auch wenn sie die Situation möglicherweise anders bewerten. Dann, weil mir aufgrund meiner Lektüre zum ersten Mal bewusst geworden ist, dass die Gesellschaft, in der ich lebe, irgendwann einmal hergestellt wurde, dass also die Bedingungen, an die ich mich anpasse, kollektiv gestaltet sind, was bedeutet: Sie können auch anders gestaltet werden. Damit schien zum ersten Mal seit Langem Handlungsfähigkeit zumindest als Option am Horizont auf. Die wiederum eine zaghafte Frage nach sich zog: Wenn du wollen dürftest, was würdest du wollen?
Damit war das Wünschen in mein Denken eingezogen. Plötzlich fiel mein Urteil über das Bestehende negativ aus. Wenn man auf Kinder verzichtet, weil man seine Arbeitsfähigkeit nicht gefährden will, wenn man ohne Lärmschutzfenster keine Unterhaltung in der eigenen Wohnung führen kann, wenn man vor lauter Arbeit keine Zeit mehr für Kochabende mit Freunden hat, wenn schon Schulkinder Medikamente nehmen, um ihre Leistungsfähigkeit zu erhöhen, wenn wir Einzelkämpfer-Individuen uns gerne als stark, flexibel, kreativ, belastbar phantasieren und am Ende Burn-out, Bandscheibenvorfall, Hörsturz, Gürtelrose und Depression stehen – stellt das nicht schwerwiegende gesellschaftliche Fehlentwicklungen dar?
Plötzlich traute ich mich auch wieder, von einer besseren Welt zu träumen. Wie wäre es, wenn ich weniger arbeiten müsste? Wenn ich mehr Zeit mit meinem Kind verbringen könnte? Wie wäre es, wenn ich gemeinsam mit meinen Nachbarn einen Garten bewirtschaften würde? Wenn ich zusammen mit anderen wohnen würde? Wenn die Städte nicht von Autos, sondern von Fußgängern und Fahrradfahrern geprägt würden? Wenn ich in einer Gemeinschaft stärker über den Raum bestimmen könnte, in dem ich lebe? Plötzlich spürte ich wieder etwas von der früheren Gestaltungslust, von der Phantasie, die in der Lage war, andere Bilder als die bestehenden auf die Netzhaut zu projizieren.
Plötzlich hatte ich den Eindruck, dass angesichts der Risiken, auf die wir zusteuern, Utopismus Realismus bedeutet. Plötzlich fühlte ich mich angesichts der überwältigenden Komplexität des Bestehenden nicht mehr ohnmächtig.
Mein
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