Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg
Ruch kommen, ein »Gutmensch« zu sein, der auf dem Weihnachtsmarkt politisch korrektes Holzspielzeug kauft.
Warum eigentlich nicht? Weil ich klug sein wollte. Die Klugheit in meiner Welt bestand aus Informiertheit, gepaart mit Zynismus. »Ein Zyniker ist ein Mensch, der von allem den Preis und von nichts den Wert kennt«, schreibt Oscar Wilde. Die moralische Dimension von Intelligenz war mir über viele Jahre abhandengekommen. Daran musste ich denken, als mir jetzt wieder ein wunderschöner Text von Adorno über die »Genese der Dummheit« in die Hände fiel, der jedem einleuchtet, der so wie ich als Kind mit Schnecken gespielt hat. Mein Grundschulfreund Uwe und ich setzten im Sommer oft Schnecken auf Mauern oder sonstige Steine. Meistens hatten sich die Tiere beim Hochnehmen erschrocken in ihr Gehäuse zurückgezogen, und wir beobachteten sie dabei, wie sie sich, sobald sie auf dem Stein saßen, glitzernd aus ihrem Haus hervorwagten, immer länger wurden, zaghaft ihre Augen auf den Fühlern ausfuhren und sich auf ihren Schneckenweg nach wohin auch immer machten. Das war der Moment, in dem wir ihnen mit den Fingern sachte auf die Augen klopften. Schwupps, zogen sich die Fühlhörner zurück ins Innere, die Schnecke hielt eine Weile inne, um sich irgendwann wieder prüfend hervorzuwagen. Ließen wir sie unbehelligt, gewann sie an gemächlicher Schneckenfahrt und machte sich von dannen. Klopften wir ihr erneut auf die Augen, zog sie sich wieder zurück, wartete ein wenig länger ab, um sich dann nicht nur hervorzuwagen, sondern auch einen Richtungswechsel als Ausweichmanöver zu versuchen.
Mit dem Fühlhorn einer Schnecke vergleicht Adorno den menschlichen Geist. »Solcher erste tastende Blick ist immer leicht zu brechen, hinter ihm steht der gute Wille, die fragile Hoffnung, aber keine konstante Energie. Das Tier wird in der Richtung, aus der es endgültig verscheucht wird, scheu und dumm.« Entmutigung macht also dumm. Deshalb bezeichnet Adorno Dummheit als Wundmal. »Jede partielle Dummheit eines Menschen bezeichnet eine Stelle, wo das Spiel der Muskeln beim Erwachen gehemmt statt gefördert wurde.« 157
157 Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 309
Ob es nun die Hörner sind, die sich abstoßen, oder Fühlhörner, die sich zurückziehen – es ist der Widerstand des Bestehenden, der unseren Geist entmutigt, der ihn partiell dumm und scheu macht, ihn blind werden lässt gegenüber den Alternativen zu diesem Bestehenden. Die Welt, wie sie ist, befindet sich dann »nicht nur außerhalb der Köpfe der Menschen, sondern auch in ihnen – in ihren Mentalitäten, Routinen, Gewohnheiten und Deutungsmustern«. 158 Irgendwann verachtet der Geist alles, was sein könnte, zugunsten dessen, was ist, »zugunsten der Vormacht materieller Verhältnisse als des Einzigen, was zählt«. 159
158 Harald Welzer/Klaus Wiegandt: Perspektiven einer nachhaltigen Entwicklung S. 11
159 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Band 6, S. 46
Wie gesagt: Lange habe auch ich mich in dieser Verachtung dessen, was sein könnte, eingerichtet. Wobei die Möbel dieser inneren Einrichtung sich nach Medien- und Konsumbildern richteten. Redaktionskonferenzen, Markteinkäufe, Restaurantbesuche – ich lebte mein Leben wie einen dieser Filme zur besten Sendezeit mit Katja Riemann, Veronica Ferres oder Natalie Wörner, eben nur ohne Schloss. Meine Sehnsucht nach einem besseren Selbst in einer besseren Welt schrumpfte zu Phantasien über schlankere Hüften in einem umwerfenden Kleid.
Und ja, mein Verleger hat Recht: Erst als dieses Bild gefährdet wurde, erst als ich mir meinen Lipgloss nicht mehr leisten konnte, habe ich begonnen, darüber nachzudenken, dass Lipgloss in dieser Welt nicht alles sein kann. Erst als »Upshifting« keine Option mehr war, wurde »Downshifting« interessant. Doch der Mentalitätswechsel war nur möglich, weil sich schon vorher der Verdacht eingenistet hatte, dass die werbebildkonforme Aus- und Einrichtung des eigenen Lebens nicht das hält, was sie verspricht. Konsum funktioniert eben nur, wie Tim Jackson sagt, weil er nicht funktioniert. Weil diese Schuhe mich nicht unwiderstehlich machen, muss ich die nächsten kaufen, weil dieses Auto mich nicht glücklich macht, muss ein größeres her.
Wissenschaftler haben ein sogenanntes Paradox der Lebenszufriedenheit ausgemacht: Die Lebenszufriedenheit in den am weitesten entwickelten Volkswirtschaften ist jahrzehntelang trotz signifikanten Wirtschaftswachstums nicht
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