Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg
Gefühl war zu einer Richtschnur meines Denkens geworden. Was zu klaren Einsichten führte. Zum Beispiel hinsichtlich der Eurokrise: Wenn eine Währungsunion nur durch ungeheure Schulden, also auf Kosten der Lebensgrundlage zukünftiger Generationen, aufrechterhalten werden kann, dann ist sie – ganz gleich, was die exportabhängige Autoindustrie dazu sagt – dieses Opfer nicht wert. Und wenn die Bundeskanzlerin das Überleben der europäischen Idee vom Überleben ihrer gemeinsamen Währung abhängig macht, wenn also Franzosen, Deutsche, Italiener, Iren und andere nichts weiter als gemeinsames Geld verbindet, dann haben wir viele Jahre falscher Europapolitik hinter uns.
Etwas Grundlegendes in mir hatte sich ganz offenbar geändert. Und mir fiel eines der schönsten Zitate über das Denken ein, das ich kenne. Es stammt aus Robert Musils Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß und geht so: »Eine große Erkenntnis vollzieht sich nur zur Hälfte im Lichtkreise des Gehirns, zur anderen Hälfte in dem dunklen Boden des Innersten, und sie ist vor allem ein Seelenzustand, auf dessen äußerster Spitze der Gedanke nur wie eine Blüte sitzt.«
»Ich würde den Leuten empfehlen, schon mal schießen zu lernen«
Am 11. November 2011, dem Sankt-Martins-Tag, führte ich ein denkwürdiges Gespräch. Mein Sohn hatte unbedingt am Martinsumzug seines Nachbarfreundes teilnehmen wollen, und so trafen wir ihn, seine Eltern und seinen Patenonkel nachmittags gegen fünf Uhr vor dem Kindergarten. Als Eltern und Kinder loszogen, begannen der Patenonkel und ich ein Gespräch. Die Bedingungen waren nicht ganz einfach, denn die laternenschwingende Horde aus dick vermummten Kindern, frierend fotografierenden Eltern und entschlossen singenden Erzieherinnen produzierte die übliche Sankt-Martins-Kakophonie. Aber irgendwie gelang es uns trotz unvermittelter »Rabimmelrabummelrabamm«-Einsätze neben uns, eine intensive Unterhaltung über soziale Ungerechtigkeit und die Zukunft der Gesellschaft zu beginnen.
Als wir zum Kindergarten zurückkehrten, war es bereits dunkel geworden, das Martinsfeuer brannte lichterloh, und Eltern und Kinder versammelten sich darum, um gemeinsam weitere Lieder anzustimmen. Ich brüllte dem Patenonkel ins Ohr, dass wir uns nach meinem Erachten inmitten einer ernsten Demokratiekrise befänden. Er brüllte zurück, dass das ja nicht überraschend käme – der Kapitalismus fräße sich eben durch die Institutionen. (Auf dem Umzug hatte sich herausgestellt, dass der Patenonkel überzeugter Marxist war.) Ich brüllte zurück, was er denn für Alternativen sähe. Er brüllte, dass wir ein alternatives Wirtschaftsmodell bräuchten. Als ich mich erneut auf die Zehenspitzen stellte, um dahin, wo ich unter der Mütze sein Ohr vermutete, meine Antwort zu brüllen, warfen uns so viele der ansonsten eher seligen Eltern dermaßen böse Blicke zu, dass wir uns tief in die Dunkelheit zu den Schaukeln zurückzogen.
Über alternative Ökonomien hatte ich gerade einiges gelesen und sagte daher zustimmend: »Da gibt es ja schon einige Vorschläge.«
Der Patenonkel nickte und wisperte: »Aber man soll nicht glauben, dass die so einfach umzusetzen sein werden.«
»Warum nicht?«, raunte ich.
»Weil die Reichen ihre Privilegien ja wohl kaum freiwillig abgeben werden wollen«, flüsterte er mir ins Ohr. Ich runzelte fragend die Stirn, so wenig Lärm wie möglich produzierend.
»Wenn wir über eine alternative Wirtschaftsordnung nachdenken, werden wir kaum umhinkommen, ein paar heikle Eigentumsfragen zu stellen«, fuhr er leise fort.
Ich nickte und erzählte ihm in gedämpftem Ton vom Schlusskapitel meines Buches, das Lösungen aufzeigen sollte. Welchen Rat er denn geben würde?
Er sah mir abwägend ins Gesicht, unschlüssig, ob er offen antworten sollte oder nicht. Und entschied sich zur Offenheit. »Ich«, flüsterte er dann, »würde den Leuten empfehlen, schon mal das Schießen zu lernen.«
»Rabimmelrabammelrabumm«, erscholl es vom Feuer.
Eine Aufforderung zum Schusswaffengebrauch auf dem Gelände eines Kindergartens – so bizarr ich die Situation fand, so inakzeptabel erscheint mir der Vorschlag zur Gewaltanwendung. Schließlich gibt es ein Gewaltmonopol des Staates. Das immerhin so etwas wie die Grundlage des modernen Rechtsstaates ausmacht. Der Gesellschaftsvertrag lautet nun mal so: Wir geben einen Teil unserer individuellen Freiheiten auf und erhalten dafür Schutz und Sicherheit. Wie die Verhältnisse sonst
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