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Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg

Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg

Titel: Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Fischer
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selbstverständlich. Man bemerkt Dinge eben erst in der Differenz – wer redet schon davon, dass Luft durchsichtig ist? Erst beim Smog-Alarm wird diese Tatsache erwähnenswert.
    Wohlstand und Sicherheit habe ich ebenso wenig bemerkt wie die staatliche Infrastruktur, die mein Leben prägte. Dass ich beispielsweise jederzeit aufgrund meiner Krankenversicherung kostenfrei zum Zahnarzt gehen konnte. (Ein Segen? Von wegen. Ich litt schon mit vierzehn unter einer Zahnarztphobie und wäre lieber nicht hingegangen.) Dass meine Schulbücher nichts kosteten, sollte das erwähnenswert sein? Schlimm genug, dass ich unter cholerischen Mathematiklehrern leiden oder obligatorisch ein Fach wie »Handarbeit« besuchen musste. Dass mein Vater bezahlten Urlaub hatte – das war doch selbstverständlich. Dass die Möglichkeit, drei Wochen nach Sylt oder Kärnten zu fahren, irgendwann mal in der Geschichte von einer kraftvollen Arbeitnehmervertretung erkämpft worden war, das wusste ich nicht.
    Der Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods, die Ölkrisen von 1973 und 1978, Massenarbeitslosigkeit – mag sein, dass in den achtziger Jahren das »Modell Deutschland« bereits seine ersten Schrammen abbekommen hatte. Dass das politische Umdenken in Richtung »Neoliberalismus« bereits begonnen hatte. Dass das, was glänzte, schon kein Gold mehr war. Nur weil man etwas nicht bemerkt, ist es deshalb noch lange nicht nicht vorhanden. Aber wer in den achtziger Jahren aufwuchs, sah die heute deutlich klaffenden Risse im Sozialstaatskörper damals noch nicht. Es schien alles sicher.
    »Oliver Twist« war für mich eine Geschichte aus einem Buch, das ich im Englischunterricht lesen musste. Dass ich selbst nur wenige Jahrzehnte früher möglicherweise auch in elenden Verhältnissen hätte aufwachsen können, kam mir nie in den Sinn.
    Als ich das meinem Kollegen Erich erzähle, schüttelt der über so viel Naivität nur den Kopf: »Die totale Sicherheit, in der wir groß geworden sind, ist sowohl historisch als auch geografisch der absolute Ausnahmezustand, das Normale ist doch, dass nichts sicher ist.«
    Und meine Schulfreundin Anna meint: »Wir haben gegen nichts gekämpft. Ein bisschen gegen Atomkraft, und das war es dann schon. 1968 geboren, da bist du in die fetten Jahre reingeboren worden. Warum solltest du gegen irgendwas sein?«
    Dass wir in unserer Neubausiedlung hätten dazugehören können, lag an dem materiellen Wohlstand, in dem wir lebten. Eine Tatsache, die ich zu ignorieren versuchte. Geld haben zu wollen erschien mir als ein vulgärer Charakterzug. Meine Nachbarin lacht darüber noch heute. Sie stammt aus einer Arbeiterfamilie mit fünf Kindern und trug in der Schule die braunen Cordhosen ihrer älteren Brüder auf, während sie sich schämte, dass ihre Mutter putzen gehen musste. Meiner Nachbarin ist Geld bis heute sehr wichtig.
    Ich dagegen kannte Armut nicht. Und verachtete den Konsum. Ausreichend Geld zu haben, um die Bedürfnisse des täglichen Lebens problemlos erfüllen zu können, erschien mir selbstverständlich, dieses Geld nutzte man aber natürlich nicht dazu, sich ein repräsentatives Auto vor die Tür zu stellen, sondern dazu, sich mit dem zu beschäftigen, was wirklich wichtig war. Das Innen erschien mir immer wertvoller als das Außen. Für Markenklamotten etwa hatte ich nur Verachtung übrig, materiellen Wohlstand deutete ich als bedeutungslos. Klassenzugehörigkeit? Antiquiert. Das monatliche Einkommen? Unwichtig. Vermögen? Verdirbt nur den Charakter.
    Jürgen, der Architekt, stammt aus wohlhabendem Elternhaus. Sein Vater ist Richter. Jürgen bekam die siebeneinhalb Jahre seines Studiums von den Eltern finanziert. Er sagte den schönen Satz: »So ein Innenleben überhaupt zu entwickeln ist ja totaler Luxus.« Genau damit waren wir jahrzehntelang beschäftigt: ein Innenleben zu entwickeln und es dann hübsch einzurichten. Wir mussten ja auch nicht kämpfen. Wir waren schon da, wo andere hinwollten. Unsere Eltern waren in den Wirtschaftswunderjahren aufgestiegen. Als Kinder von Aufsteigern befanden wir uns in einer privilegierten Situation. Nicht nur wirtschaftliche Vermögen, auch »Bildungskapital« wurde in großem Maß vererbt, was den Nachkommen der Gutsituierten einen für die anderen kaum einholbaren sozialen Vorsprung bescherte. 12
    12 Christoph Deutschmann: Sozialstrukturelle Bedingungen wirtschaftlicher Dynamik, S. 51
    Diesen Vorsprung haben wir alle gespürt, auch wenn er uns nicht bewusst

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