Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg
gestiegen oder sogar gesunken. Ab einem Pro-Kopf-Einkommen zwischen 15000 und 22000 Dollar (hier sind die Wissenschaftler uneins) steigt das Wohlbefinden nicht mehr an. Was daran liegt, dass die Menschen in solchen Gesellschaften rastlos mit dem sogenannten Geltungs- oder Statuskonsum beschäftigt sind, um im sozialen Vergleich gut abzuschneiden. 160
160 Amitai Etzioni: Eine neue Charakterisierung des guten Lebens, S. 330
Abgesehen davon, dass ich Beispiele für Geltungskonsum massenhaft bei mir selbst und meinen Freunden ausmachen kann, habe ich ihn in einer eindrucksvollen Ausprägung 2010 erlebt. Da durfte ich einen Moskauer Multimillionär als Moderatorin auf seiner deutschen Lesereise begleiten. Der Mann hatte ein Buch geschrieben über das hohle Leben der Superreichen, und eben jenes Leben, das er anschaulich beschrieb, führte er selbst. Wow, hatte ich ehemalige Sozialdemokratin zuerst gedacht, als der Verlag mich anfragte, jetzt lerne ich einen echten Multimillionär kennen. Die Aussicht machte mich nervös. Wieder bewahrheitete sich die Einsicht, dass man noch lange nicht frei ist, nur weil man seiner Ketten spottet. Es war eine Sache, sich über unseren Status- und Geltungswahn, unsere Götzenverehrung des Geldes lustig zu machen, und eine andere, sich von den Ikonen dieser Verehrung nicht beeindrucken zu lassen. In einer Berliner Hotellobby war es dann so weit: Ich traf den Multimillionär, seine Freundin und seinen irischen Agenten. Der Agent war ein entspannter Endfünfziger, der von seinen Enkeln erzählte und nach einigen Gläsern Wein irische Wiegenlieder sang. Der Multimillionär war ein fahriger Mann Ende dreißig in einer auffallend hässlichen Gucci-Lederjacke, dauergestresst, weil der deutsche Verlag nicht so agierte, wie es ein russischer Multimillionär gewohnt ist: Der Verlag buchte ihm nicht das teuerste Hotel der Stadt. Der Verlag lud nicht in das feinste Restaurant der Stadt. Der Verlag zahlte keine Business-Class-Flüge. Die Demütigung, gemeinsam mit uns und vielen anderen in der Schlange vor dem Check-in-Schalter der Economy Class zu stehen, hielten der Multimillionär und seine Freundin kaum aus. Es war überraschend zu sehen, wie ungeheuer unsicher die beiden wurden, wie nervös und empfindlich, als ihnen ihre üblichen Mechanismen zur Statussicherung nicht mehr zur Verfügung standen. In Berlin verbrachten sie die Nacht heimlich in einer selbst gebuchten Suite des Adlon, was nur dadurch auffiel, dass sie zu spät zum Frühstück kamen. Auf der gesamten Reise trank der Multimillionär nichts anderes als Cola und Champagner. Er orderte die Champagnerflaschen wie ich Wasser. So viel Moët & Chandon habe ich davor und danach nie wieder getrunken, trotzdem war es nur die ersten beiden Flaschen lang aufregend.
Wenn die Pressedame des Verlags und ich uns treffen, erzählen wir uns immer noch die prägnantesten Anekdoten dieser Reise, die für uns das Ende der Phantasie bedeutete, reiche Leute seien unabhängig. Diese beiden waren entsetzlich abhängig. Von ihrem Geld.
Wie gesagt: Ich kann mich über diese Art der Abhängigkeit lustig machen. Frei bin ich trotzdem nicht. Sonst hätte ich keine Probleme mit meinem Laminat. Die habe ich ja nur deshalb, weil ich es als nicht meinem sozialen Status angemessen empfinde.
Vor einigen Jahren habe ich ein sensationelles Buch des amerikanischen Stressforschers Robert M. Sapolsky gelesen, eines jüdischen Ostküstenintellektuellen mit entsprechendem Humor. Er wollte soziale Stressfaktoren an frei lebenden Pavianherden studieren. »Sie waren dafür ideal. Paviane leben in großen, komplexen Gruppen, und die Population, die ich studieren wollte, führte ein herrliches Leben. Die Paviane arbeiten vielleicht vier Stunden am Tag für ihre Ernährung, Fressfeinde haben sie kaum. Haargenau wie bei uns – kaum jemand bei uns wird durch physische Stressfaktoren unter Druck gesetzt, keiner von uns muss Angst vor Hungersnöten oder Heuschreckenplagen haben oder sich Sorgen machen, weil ihm um fünf Uhr nachmittags auf dem Parkplatz ein Hauen und Stechen mit dem Chef bevorsteht. Es geht uns so gut, dass wir uns den Luxus leisten können, aus Gründen eines rein sozialen, psychologischen Stresses krank zu werden. Genau wie diese Paviane.« 161
161 Robert M. Sapolsky: Mein Leben als Pavian, S. 17
Anders als Paviane können wir Menschen unser soziales Zusammenleben reflektieren. Und anders als Paviane können wir Statistiken lesen. Sie sagen uns
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