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Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg

Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg

Titel: Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Fischer
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war.
    Klar: Ich wusste, dass in anderen Ländern andere Verhältnisse herrschten. Es gab Diktaturen etwa in Südamerika, es gab den Ostblock. Es gab arme Länder, in denen kein Wasser aus dem Wasserhahn kam, wie in Afrika. Es gab für meine Begriffe grotesk ungleiche Gesellschaften mitten in Europa wie Großbritannien, wo die Upper Class sich so unmoralische Dinge erlauben konnte, wie während einer Fuchsjagd über einen Dorffriedhof zu galoppieren. Das waren Länder, in denen ich nicht leben wollte.
    Durch meine Literaturbegeisterung wusste ich zudem, dass es in der Geschichte andere Zustände gegeben hatte. Dass in Russland Leibeigene zu Tode geprügelt worden waren, dass die französische Königin Marie Antoinette Hungernden angeblich empfohlen hatte, Kuchen zu essen, wenn sie kein Brot hätten, und dass im 19. Jahrhundert in Deutschland die Weber unter elenden Bedingungen hatten hungern und arbeiten müssen.
    Doch erstaunlicherweise – trotz Sozialkundeunterrichts und der Tatsache, dass während meines Studiums die Historiker im selben Gebäude untergebracht waren wie die Philosophen – ist mir nie in den Sinn gekommen, dass irgendwann irgendjemand diese Zustände geändert haben musste. Dass das »Gebilde der Staatlichkeit«, in dem ich lebte, hergestellt, eben: errungen worden war. Ich habe die beiden Zustände – schlechte Vergangenheit, bessere Gegenwart – nie kausal miteinander verknüpft. Obwohl ich Hegels Geschichtsphilosophie studierte, nahm ich die Gegenwart als naturgegeben hin. Heute verstehe ich dieses Ausmaß an Phantasielosigkeit nicht mehr. Es erscheint mir ungeheuer kindlich, denn Kinder nehmen die Verhältnisse, in denen sie aufwachsen, bis zu einem gewissen Alter ja ebenfalls als naturgegeben, selbstverständlich, normal hin, ganz gleich, wie diese Verhältnisse sind. Weil ich – so wenig wie ein Kind die Schutzmaßnahmen der Eltern wahrnimmt – die Schutz- und Sicherungssysteme nicht wahrnahm, die der Staat über mir spannte, war mir auch meine eigene Abhängigkeit von diesen Systemen nicht bewusst. Ich hielt mich in meinen Ansichten, Zielen und Wünschen für ein unabhängiges, freies Individuum, das die Kraft und die Verpflichtung besaß, sein grandioses Selbst zu verwirklichen. Ich hatte wenig Ahnung davon, dass mir all das nur durch die Entwicklung der Gesellschaft möglich gemacht worden war.
    Es war mir nicht bewusst, dass ich »staatsbedürftig« 14 war. Offenbar gibt es so etwas wie eine kollektive Vergesslichkeit der Tatsache, dass unsere Umwelt von uns selbst gemacht wird. Wir bemerken den Wohlfahrtsstaat nur dann, wenn er Steuern eintreibt oder Leistungen gewährt oder verweigert. 15 Oder als bedrohlicher Machtapparat in Erscheinung tritt.
    14 Berthold Vogel: Wohlstandskonflikte
    15 Ebd., S. 61
    So habe ich den Staat als Jugendliche in den achtziger Jahren in der Zeit der Friedens- und Umweltbewegung interpretiert. »Der Staat«, das war der, der Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles stationieren wollte und die Polizisten bezahlte, die morgens um fünf vor schlafenden Hüttendorfbewohnern mit ihren Schlagstöcken auf ihre Schutzschilde trommelten. »Der Staat«, das war der »Big Brother«, der eine Volkszählung durchführte und der die widersinnigen Lehrpläne für die gymnasiale Oberstufe aufstellte, gegen die ich als Schülervertreterin protestierte. »Der Staat«, das war auch der, der nach der nuklearen Katastrophe von Tschernobyl am Ausbau von Atomstrom festhielt. »Der Staat« war in den achtziger Jahren mein Feind. Später dann habe ich die Anwesenheit dieses Staates in meinem Leben vergessen. Ich war mit meinem Privatleben beschäftigt.
    Mir ging es damals so, wie es meiner guten Freundin Anna heute noch geht. Als ich sie nach der Rolle der Politik in ihrem Leben frage, muss sie lange nachdenken und schüttelt dann langsam ihre dunklen Locken: »Ich sehe nicht, wo Politik in meinem Leben eine Rolle spielt. Wir sind nicht an einer staatlichen Schule oder sonst irgendwo.« Dann fällt ihr aber doch noch was ein: »Klar, wir benutzen die Autobahn.«
    Diese »Staatsvergessenheit« hat sich bei mir erst in dem Moment geändert, als der langsame Rückzug des Staates mein Privatleben unangenehm berührte, weil dieser Rückzug nämlich Lücken hinterließ, die ich selbst schließen musste – und immer noch muss. Weil ich als gesetzlich Versicherte private Zusatzversicherungen, beispielsweise für die Zähne, abschließen muss. Weil ich mich um eine private Altersvorsorge

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