Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg
kümmern muss. Weil ich mich entscheiden muss, ob mein Sohn in eine städtische Kindertageseinrichtung geht oder in eine vermeintlich bessere private. Weil ich Geld für die Ausbildung meines Sohnes zurücklegen muss, da ich nicht mehr davon ausgehen kann, dass er kostenfrei studieren kann.
Erst jetzt fange ich an, mich für die wohlfahrtsstaatliche Ordnung zu interessieren, in der ich aufgewachsen bin. Und fange an, mir die Augen zu reiben vor Staunen. Mir ist klar geworden, warum Pierre Bourdieu diesen Staat als »kulturelle Errungenschaft« bezeichnet.
Um das zu verstehen, müssen wir uns ins Jahr 1945 zurückbeamen.
Hinter den Völkern Europas lag eine entsetzliche Zeit. Von 1914 bis 1945 hatten sie Massenelend, Besatzung, Zerstörung, ethnische Säuberung, Folter, Vernichtung, Krieg und Genozid in unvorstellbaren Dimensionen erlebt. Weltwirtschaftskrise und Faschismus waren nicht vergessen. Die Frage war nun, wie man dafür sorgen konnte, dass sich die Erfahrungen dieser Jahre 1914 bis 1945 nie mehr wiederholten.
Mit dieser Frage beschäftigte sich vor allem der Ökonom John Maynard Keynes. Nach der Weltwirtschaftskrise hatte sich für ihn der Glaube an das kapitalistische Dogma, dass private Gewinne stets der Allgemeinheit zugute kämen, erledigt. Denn es war schließlich ein kompromissloser Kapitalismus gewesen, der zu Weltwirtschaftskrise, Verelendung und in der Folge zu Faschismus geführt hatte – den Rückfall in eine solche Vergangenheit wollte Keynes auf jeden Fall verhindern, den Markt an sich aber auch nicht durch eine zentralisierte staatliche Ordnung und Planung ersetzen. Was also tun?
Seine Lösung war überraschend. Sie lautete: mehr Staat. »Paradoxerweise sollte der Kapitalismus durch Maßnahmen gerettet werden, die gemeinhin mit dem Sozialismus assoziiert wurden und werden.« 16 Keynes plädierte für einen starken Staat. Einen Staat, der die natürlichen Härten des Kapitalismus abmildert, der dem Markt Zügel anlegt und der gegenwärtigen und künftigen Wohlstand für alle verspricht. »Dieser Staat«, sagt mir auch Berthold Vogel, »war eine der Konsequenzen aus den Erfahrungen mit den beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, also sowohl Kommunismus als auch Nationalsozialismus. Man ging davon aus, dass man einen stärkeren gesellschaftlichen Rahmen braucht, mehr Sicherheit, mehr Schutzmechanismen gesellschaftlicher Art, auch mehr Beteiligung an der Gesellschaft.«
16 Tony Judt: Dem Land geht es schlecht, S. 47
Es waren also sehr starke moralische Überlegungen, die zu einer ökonomischen Neuordnung führten. Weil die Erfahrungen von Terror und Krieg so entsetzlich waren, weil sie allen Beteiligten noch in den Knochen saßen, wollte man einen gesellschaftlichen Rahmen bauen, der die Wirtschaft begrenzte und den Menschen Schutz vor den Risiken des Lebens bot.
Eine Grundlage für den stärkeren gesellschaftlichen Rahmen schuf im Dezember 1948 die Vollversammlung der Vereinten Nationen. Da verabschiedete sie die »Universal Declaration of Human Rights«, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.
Die war eine Revolution. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde eine internationale Verantwortung für die Wohlfahrtsentwicklung in der ganzen Welt formuliert. Daraus entstand ein Konzept der Menschenrechte, dessen grundlegender Bestandteil die Existenz sozialer Grundrechte ist. Dazu zählen neben den Freiheitsrechten und dem Recht auf politische Beteiligung auch die Rechte auf Zugang zu soziokulturellen Mindeststandards und Rechte der wirtschaftlichen Existenzsicherung. 17
17 Berthold Vogel: Wohlstandskonflikte, S. 59
Im Mittelpunkt der Deklaration steht Artikel 22. Der geht so: »Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jeden Staates in den Genuss der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen.«
Da Ökonomen unterschiedlicher Ausrichtung und Politiker unterschiedlichster Lager nach Terror und Krieg der Überzeugung waren, dass der Markt allein nicht in der Lage sei, die Verwirklichung dieser Rechte zu garantieren, wurde in fast allen europäischen Staaten ein starker gesetzlicher Rahmen, das heißt: ein starker Staat geschaffen. Der wurde sehr konkret tätig: Er baute das Gesundheits- und
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