Gentlemen, wir leben am Abgrund
Spielerkarriere aufgrund einer Augenverletzung hatte beenden müssen, sagte ebenfalls zu. Für ihn würde das nächste Jahr sein erstes als Verantwortlicher sein, aber er würde sich dabei von mir auf die Finger schauen lassen. In meinen Vorgesprächen mit Albas Vereinsführung war irgendwann immer von Luka Pavi ć evi ć s sehr klarer Visiondes Spiels die Rede gewesen, von seiner unfassbaren Akribie, seinem konkreten Plan für die Zukunft, seiner Idee vom perfekten Spiel. Luka Pavi ć evi ć habe ein Konzept. »Der Coach wird das letzte Wort haben wollen«, erklärte Demirel, »Luka will immer die Kontrolle behalten.«
Die offizielle Meinung war also: Für Alba Berlin gibt es keinen besseren Headcoach als Luka Pavi ć evi ć . »Wir werden alle Steine umdrehen, aber Luka Pavi ć evi ć bleibt unser Trainer«, hatte Marco Baldi den Journalisten nach dem Ausscheiden in Frankfurt in die Apparate diktiert. In ihrem überhitzten Bungalow im Berliner Mauerpark hatten die Manager den Sommer über gemeinsam mit Luka Pavi ć evi ć an einer neuen und besseren Mannschaft gebaut. Man hatte wie angekündigt Steine umgedreht, neue Spieler verpflichtet und alte entlassen. Nur drei aus der alten Mannschaft waren geblieben. Im Biergarten hatte Baldi die Qualität seines Coaches gepriesen, später war allerdings auch von der »Verbissenheit« und »Besessenheit« des Coaches die Rede gewesen, von seiner »begrenzten Flexibilität«.
Auch das war eine Überzeugung der Vereinsführung: Baldi, Harnisch und Demirel hatten Pavi ć evi ć zur Zusammenarbeit mit einem Sportpsychologen zu überreden versucht. Aber Pavi ć evi ć hatte gezögert. Also hatten sie darauf bestanden. Es war nicht einfach, aber schließlich hatten sich der Coach und der Psychologe getroffen und begonnen, miteinander zu arbeiten. »Luka Pavi ć evi ć ist schon als Spieler sehr genau und strukturiert gewesen«, hatte Henning Harnisch einmal gesagt. Die beiden hatten gegeneinander gespielt. »Er hat eine klare Vorstellung, wie die Dinge sein müssen. Er hat eine Vision vom richtigen Basketball. Aber da ist noch viel mehr. Er ist ein kluger Mensch.« Harnisch sprach von Luka Pavi ć evi ć , wie man von einer Romanfigur spricht, gleichermaßen fasziniert und analytisch. »Luka wird sich ändern müssen«, sagte er. »Dieses Jahr ist für ihn entscheidend.«
Aus der Entfernung der Zuschauertribünen hatte ich Luka Pavi ć evi ć nie richtig einordnen können. Er war kein eindeutiger Mann. Ich hatte ihn bei der Arbeit beobachtet, aufs Äußerste konzentriert. Ich hatte gehört, was andere über ihn sagten, ich hatte gelesen, was die Presse über ihn schrieb. Er war auf irritierende Weise faszinierend.
Wenn das Spiel begann, wenn das Flutlicht ansprang und sich der Trockeneisnebel verzog, war Pavi ć evi ć plötzlich mit zwei, drei Schritten an der Seitenlinie. Sein Körper stand unter Spannung, ein Dirigent vor dem Orchester, ein Maler vor der Leinwand, das ungemalte Bild bereits ganz genau im Kopf. Bei der ersten bedeutsamen Aktion des Spiels zog sich der Coach die Anzugjacke aus und hängte sie über den Trainerstuhl, als dürfe sie nicht schmutzig werden. Das war eines seiner Rituale: Er zog die Jacke erst wieder an, wenn das Spiel entschieden war, wie er mir später einmal erklärte, the very second when the game breaks. Er krempelte die weißen Hemdsärmel auf: Luka Pavi ć evi ć spielte sein Spiel.
Der Sommer ist ein Wartesaal. Im Juli und August passiert im professionellen Basketball vordergründig nichts: Es gibt keine Spiele, keine Ergebnisse, die Bühne ist leer. Hinter den Kulissen der Profiteams wird gearbeitet. Die Spieler verbringen den Sommer bei ihren Familien, in Basketballcamps, Sportclubs und den Turnhallen amerikanischer Universitäten. Sie hoffen auf Einladungen zu den amerikanischen Sommerligen. Sie schlafen aus, sie trainieren, sie warten auf Angebote der Profiteams. Ein paar Spieler sind mit ihren Nationalmannschaften unterwegs. Die Spieleragenten warten auf Anrufe der Manager, die Manager warten auf Anrufe der Spieleragenten. Die Trainer warten auf Budgetentscheidungen ihres Managements. Die Fans warten auf die nächste Saison, und bis dahin warten sie auf Nachricht, wie es weitergehen wird, sie vertreiben sich die Zeit mit Spekulationen, ab und zu gibt es eine kurze Pressemitteilung.
Ich stand vor dem Trainerbüro von Alba Berlin und wartete auf Luka Pavi ć evi ć , ich klopfte wieder an die Glastür, dann trat ich einfach ein.
Im
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