Gentlemen, wir leben am Abgrund
alles klingt wie für Sportromantiker ausgedacht, als wäre es Romanmaterial, ein Drehbuch vielleicht, samt Showdown auf der staubigen Hauptstraße eines Dorfes, und Ennio Morricone dirigiert. »Noch ein Kapitel für dein Buch?«, hat Yassin Idbihi nach jedem gewonnenen Spiel gefragt, als hätte ich mir diese Saison ausgedacht, um etwas erzählen zu können. Morgen ist Samstag, der 18. Juni, morgen kann Alba Berlin nach einer turbulenten und komplizierten Spielzeit trotz allem noch deutscher Meister werden. Wir fahren Richtung Südwesten. Diese Saison mag wie eine rasante Achterbahnfahrt klingen, aber sie fühlt sich an wie eine irrwitzig lange Busreise Richtung Bamberg.
Die Spieler reden, aber wenn zwanzig Männer zehn Monate lang im Bus sitzen, verliert das Sprechen immer mehr an Bedeutung. Englisch ist die Sprache der Basketballwelt und die lingua franca im Bus. Am Ende einer Saison kann ein Außenstehender den Unterhaltungen kaum mehr folgen. Femerling und Schultze diskutieren seit der Abfahrt heute Morgen über irgendetwas, an das sich keiner von beiden genau erinnern kann. Vielleicht ging es ursprünglich einmal um Telefone, BlackBerry-vs.-iPhone, oft beginnt es mit solchen Dingen, aber jetzt geht es darum, wer wann was und wie gesagt hat. Die beiden diskutieren über das Diskutieren an sich. Seit Monaten sitzen sie nebeneinander in Mannschaftsbussen und Flugzeugen, seit Monaten teilen sie sich die Hotelzimmer. Femerling ist Waldorf und Schultze ist Statler, sie sind Müller-Lüdenscheidt und Doktor Klöbner.
Eine professionelle Basketballmannschaft ist eine eigentümliche Familie, in der bereits alles gesagt wurde, die aber trotzdem weiter redet. Die Sprache einer Basketballmannschaft ist rau und roh, sie ist vollerSchmähungen, Superlative, Sexismen und nationaler Vorurteile. Es wird imitiert, drei Sprachen werden miteinander verquirlt, es wird gegrölt, anzitiert, uneigentlich gesprochen, es wird gespottet. Es wird in drei Sprachen geflucht, Alter, what’s wrong with you, brate!, es wird albern, kindisch, klug, grandios, es wird lautpoetisch, »NeinNeinNein«, sagt Femerling, »DochDochDoch«, sagt Schultze. Und wenn es drauf ankommt, versteht sich eine gute Basketballmannschaft ganz ohne Worte.
Wir verlassen Berlin zum letzten Mal in dieser Saison. An den Busfenstern rauschen die alten Autobahnraststätten und Grenzanlagen der Stadt vorbei. Der Berliner Bär nickt uns melancholisch zu.
Ich muss etwa neun Jahre alt gewesen sein, als ich irgendwann im Herbst 1984, kurz nach meiner Erstkommunion, in einer Fünfziger-Jahre-Turnhalle in Hagen zum ersten Mal einen Basketball in die Hand bekam. Im Bus nach Bamberg erinnere ich mich an die Glasbausteine und Sprossenwände, an den dunklen Geruch des Geräteraums, die Risse in der blauen Weichbodenmatte, an die anderen Kinder, die längst wussten, was ein Korbleger war, rechts-links-hoch, verstehst du? Mein Cousin Andreas hatte mich mitgenommen, mein erster Trainer hieß Martin Grof, in meiner Erinnerung trägt er grün-weiße Turnschuhe von Converse und ausgewaschene Jeans. Basketball galt damals als Sportart für Studenten. Martin fuhr einen alten Opel, glaube ich, er wird Student gewesen sein. Er brachte mir bei, dass man die Hand beim Wurf abknickt, dass sich der Ball rückwärts drehen soll, dass eine hohe Flugkurve das Wichtigste ist, er zeigte uns immer wieder, wie der Ball fliegen sollte, er traf einen Wurf nach dem anderen, er gab den Rhythmus beim Korbleger vor, tak-tak-tak, immer wieder rechts-links-hoch, eine Art Tanz, tak-tak-tak.
In meinem ersten Sommer als Basketballer fuhr ich mit dem Linienbus 512 zum Training, manchmal durften Andreas und ich in Martins winziger Wohnung ein Basketballvideo aus Amerika sehen, der Fernseher auf einer umgedrehten Bierkiste, eine importierte Videokassette mit dem fünften Spiel der Finalserie Boston Celtics gegen Los Angeles Lakers im alten Boston Garden. Mehr gab es nicht. Immer wieder Spiel Nummer fünf, Boston gewann immer wieder 121:103.
»Martins Bruder ist Profi«, sagten die anderen Kinder, und irgendwann sah ich mein erstes Bundesligaspiel, das Derby SSV Hagen gegen TSV Hagen in der verrauchten und völlig überfüllten Ischelandhalle, ich hielt mir die Ohren zu vor Lärm und die Augen vor Spannung. Ich war erstaunt, dass Menschen derartig hoch springen konnten wie der schwarze Aufbauspieler Keith Gray, der sekundenlang in der Luft stand, ehe er warf. Ich war verblüfft und verängstigt von der wilden
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