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Geographie der Lust

Geographie der Lust

Titel: Geographie der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürg Federspiel
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einem Lehnstuhl einer alten Dame gegenüber, weißhaarig, mit verrunzelter bräunlicher Haut. Laura ließ den Kopf fallen. Die Phantasie hatte ihr die Mutterleiche vorgegaukelt, und sie versank – so erschien es ihr später – in nächtliche Ewigkeit. In Wirklichkeit handelte es sich bloß um zwanzig Sekunden, was der Zeitdauer entspricht, in der sich Olivenöl und Weinessig bei mittlerer Zimmertemperatur auch nach gründlicher Vermischung wieder trennen.
    »Liebes Kind«, sprach die alte Dame. »Nichts kann Ihnen hier widerfahren, nichts. Ich bin Omai O'Haras Mutter. Die beiden jungen Männer links und rechts von mir sind Omais Brüder.«
    Laura blinzelte, hob die Augenlider und begann ihr Gegenüber zu betrachten, mißtrauisch noch immer. Erschrocken sah sie in das Gesicht des Bruders zur Linken, das silbern übertüncht war und gleißte; der junge Mann zur Rechten der alten Dame war im Begriff, sein Gesicht mit goldener Farbe zu schminken. »Hallo«, sagte er freundlich, »wir haben uns eben gesehen, ja?«
    Laura starrte die alte Dame an. Sie besaß ein majestätisches Gesicht voll seltsamer Unregelmäßigkeiten und trug ein schwarzes Samtkleid, das bis zum Hals geschlossen war; auf ihrem Haupt saß eine indianische Krone aus weinroten Federn.
    »Mein Sohn hat Sie sehr geliebt«, sprach die alte Dame. »Er rief mich an in der Nacht vor der Vollendung des Kunstwerks. Ich glaubte ihm kein Wort. Er hat nie jemanden geliebt. Nicht einmal mich. Aber nun heraus mit der Sprache: Warum ist mein Sohn gestorben?«
    Laura tat so, als überlegte sie sich die Frage, und besann sich dann auf die Wirkung ihres Temperaments. Sie schrie hintereinander einundzwanzig italienische Flüche.
    »Diese Antwort genügt mir«, sagte die alte Dame mit der weinroten Federkrone, »und ich zweifle nicht an ihrer Richtigkeit. Ich danke Ihnen. Gott segne Sie.«
    Damit erhob sie sich und schritt hinaus.
    Erst jetzt blickte Laura sich um.
    »Wo bin ich hier?«
    »In Ihrer Suite. Wir werden Ihr Zimmer die ganze Nacht bewachen. Auch die Fenster. Ängstigen Sie sich also nicht. Morgen ist der große Tag mit der noch größeren Nacht. Schlafen Sie gut. Wir lieben Sie fast so sehr wie unsern Bruder Omai.«
    Beide küßten ihre Hand und warteten, bis Laura die Tür von innen geschlossen hatte.
    Auf einem Tisch lag ein Korb mit Früchten, die sie noch nie gesehen hatte, pfirsichförmig in unzähligen Gelbfarben. Ein Brief steckte zwischen den Früchten. »Dies sind Banto-Pfirsiche«, las sie, »eine japanische Frucht, die dreitausend Jahre braucht, um zur vollen Reife zu gelangen. Wer diese Früchte ißt, dem wird ewige Gesundheit und ewiges Leben verliehen. Trotz Ihrer Undankbarkeit sind das Grüße Ihrer japanischen Freunde. Sie haben sich seit zwei Freitagen nicht mehr gemeldet.«
    Laura wurde einen Augenblick von Furcht gepackt, griff dann nach einem der Banto-Pfirsiche, ließ Haut auf Haut streicheln, nahm einen zweiten und einen dritten für David und ihr Kind, wickelte sie in einen Schal und legte sich schlafen.
    »Sterbe ich heute nacht«, sagte sie laut, »so sterbe ich. Sterbe ich nicht, so werden wir alle drei die Ewigkeit in Italien verbringen. Gott, ich danke dir, daß du mir ein so spannendes Leben geschenkt hast.«

VIERUNDZWANZIG
    Santa Fe, auch die City Different, die »ganz andere Stadt« genannt, liegt 2100 Meter hoch, beachtlich hoch also; sechzigtausend Einwohner.
    Santa Fe hatte diesen Tag durch Beschluß aller Bürger offiziell für das OMAI-O'HARA-Festival auserkoren, das von nun an jedes Jahr stattfinden sollte.
    Tätowierkünstler aus der ganzen westlichen Welt waren im Flugzeug, mit Auto und Eisenbahn herbeigereist, nicht zu vergessen die Geschwader aus der fernöstlichen Welt, Privatjets aus Tokio, Okinawa und Osaka.
    Omai O'Haras silberfarbenes oder auch goldenes Antlitz schmückte als Konterfei wehende Tücher und Transparente, fixierte, wie im Jahre 1984 der Große Bruder , jeden Kunsthändler, Teppichweber, Schauspieler, Kellner, die Millionärsgattinnen, die Keramik herstellten – ja, jeden Indianer, jeden Alkoholiker, jeden Massagetherapeuten, jeden Grundstücksmakler. Ja selbst normale, versehentlich nach Santa Fe abgedriftete Menschen, alle, alle, alle wurden in den Bann der Augen Omai O'Haras gezogen, schwiegen für die Länge des ausgetauschten Blicks, senkten die Lider und studierten ihre Haut. Ihre nackte Haut. Sie dachten über die empörende Leere ihrer Körperoberfläche nach und begannen sich –

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