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Geographie der Lust

Geographie der Lust

Titel: Geographie der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürg Federspiel
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gefickt?«
    David schwieg und horchte auf.
    »Kneif nicht«, sagte sie. »Wie viele?«
    Er schien in die Luft zu horchen.
    »Jemand steht vor der Wohnungstür«, sagte er schließlich.
    In diesem Augenblick gongte die Türglocke.
    Es war Lucia. Eine strahlende Lucia mit allem Gepäck, das sie im Wayawanda-Hotel vergessen hatte.
    Es klang nun, als hätte man auf einem Transistorradio in Mailand mit einer Handbewegung sämtliche italienischen Sender durchprobiert und den erwünschten noch immer nicht gefunden: Geschrei, Musik und weibliche Nachrichtensprecher, ein akustisches Durcheinander.
    Dann rannten die beiden Frauen in der Wohnung herum, rühmten, prahlten, gestikulierten und stießen jene Schreie aus, die sonst nur Liebenden vorbehalten sind.
    »Und der Blinde dort«, rief Laura atemlos, »ist mein Mann!«
    »Bel uomo!« schrie Lucia. »Auguri, auguri!« Sie riß David von seinem Stuhl hoch, schmatzte Küsse auf seine Wangen und sang lauthals: »Mille, mille baci, mille mille baci…«
    »Gibt es in Italien eigentlich keine Blinden?« fragte er. Die beiden jungen Frauen überhörten ihn, setzten sich wieder an den Tisch und machten sich über die Käseplatte her, Mascarpone, Parmesan und Mozzarella.

ZWANZIG
    Charles A. Lindbergh, einer der anrüchigsten Helden des Jahrhunderts, flog im Jahre 1927 in dreiunddreißig Stunden und neunundzwanzig Minuten von Mineola, New York, nonstop nach Paris. Ein paar Jahre später ließ er sich von Nazi-Deutschland feiern und brachte wider besseres Wissen einen Unschuldigen auf den elektrischen Stuhl. Doch das gehört nicht hierher… Einundsechzig Jahre später, 1988, flog die Italienerin Lucia Florentano von New York, Kennedy Airport, nach Zürich.
    Der Zollbeamte am Zürcher Flughafen Kloten erkundigte sich nach dem Inhalt ihres Gepäcks. Lucia öffnete ein Köfferchen, in dem fein säuberlich eine Million Dollar gebündelt sich den Augen des Betrachters darbot. Der Beamte nickte freundlich und mürrisch zugleich, eine eminent schweizerische Eigenschaft in puncto Geld.
    Dann erkundigte sich der Beamte, diesmal entschieden mürrischer, ob sie nicht etwas Richtiges zu verzollen habe, Parmaschinken zum Beispiel, denn warum soll die Inhaberin eines italienischen Reisepasses nicht versuchen, Parmaschinken von New York nach Zürich zu schmuggeln, hm?
    Lucia eröffnete an der Zürcher Bahnhofstraße in einer Bankfiliale ein Nummernkonto. So einfach ist das nicht, erklärte ihr ein distinguierter junger Mann, der sie durch verschiedene Korridore in ein gemütliches kleines Zimmer geführt hatte, da müssen Sie schon mit einer Stunde Wartezeit rechnen.
    Natürlich zählte er das Geld nicht. Er unterhielt sich eingehend mit Lucia über italienische Küche, sah – um die Stunde des Anstands zu bewahren – von Zeit zu Zeit auf seine Armbanduhr, fuhr von Zeit zu Zeit mit dem Handrücken über die Wange, lächelnd, die Rasur vom frühen Morgen überprüfend.
    Das war alles.
    Am nächsten Tag befand sich Lucia wieder in New York.
    Die ganze Reise hatte – das wußte sie natürlich nicht – insgesamt genauso lange gedauert wie ebenjener gefeierte Flug Charles A. Lindberghs: Dreiunddreißigeinhalb Stunden.

EINUNDZWANZIG
    Laura stand in der Küche, wusch Besteck und Geschirr, ließ hie und da etwas fallen; Klirren, Scherbeln, und dazwischen stieß sie kleine Klagelaute aus, als hätte sie sich verletzt. Sie wollte Aufmerksamkeit, und so spähte sie zuweilen in den Wohnraum, erpicht auf eine Reaktion Davids.
    Man erwartete sie am Abend des übernächsten Tages in Santa Fe. David saß in einem Fauteuil, trug Stiefel und Jeans, ließ den Zeigefinger über die Buchseiten mit Brailleschrift gleiten und hörte sich Musik aus einem Transistor an.
    Draußen trieb der Sturmwind Schneeflocken in die Höhe, es wetterleuchtete, blitzte und donnerte, der entfesselte Zorn von General Petrus sine nomine Christi. Weit unten, auf den Straßen eben, drehten sich die Fahrzeuge um die eigene Achse, der Schnee erstickte die sonst gellenden Hupen. Die Straßenlaternen leuchteten matt.
    »Gott, wie ich den Winter hasse«, rief Laura.
    Sie ließ drei Gläser fallen.
    »Wie viele Gläser haben wir noch?« fragte David.
    Sie antwortete nicht, kam näher, streichelte seine Haare und liebkoste seine Augenlider.
    »Was liest du?« fragte sie, »und wie kann man lesen und Vivaldi hören?«
    »Fernsehen auf meine Weise«, antwortete er. »Was plagt dich?«
    »Ich muß für zwei Tage verreisen«, schluchzte Laura.

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