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Geographie der Lust

Geographie der Lust

Titel: Geographie der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürg Federspiel
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»Dann werden wir für immer zusammensein.«
    »Ist doch gut so«, sagte er freundlich, »niemand hindert dich.«
    »Und du fragst nicht, wohin ich gehe?«
    »Nein. Wenn man blind ist, fragt man nicht. Ist überflüssig. Die Menschen sind geradezu gierig darauf, einem Blinden von sich zu erzählen. Man muß bloß warten.« Dann räusperte er sich, lachte. »Ich warte.«
    »Du bist nicht eifersüchtig?«
    Er schüttelte den Kopf, lächelte.
    »Warum bist du nicht eifersüchtig?«
    »Weil ein normaler Mann dich sehen kann.«
    »Weil ein normaler Mann mich sehen kann«, wiederholte Laura atemlos. »Aha, du hältst mich also für häßlich, ja?«
    »Keineswegs. Du bist schön. Für mich bist du schön. Andere Männer halten dich vielleicht für weniger schön.«
    »Glaubst du, ich hab' mir einen Blinden genommen, weil ich zu häßlich bin für andere Männer?«
    Lauras Gesicht verzerrte sich vor Wut und Empörung tatsächlich zu einer Fratze. Sie verschluckte sich fast an der eigenen Zunge.
    »Das hab' ich nie gesagt«, bemerkte David ungerührt.
    »Abgesehen von allem, du bist im dritten Monat schwanger.«
    Laura begann nun endlich zu schreien. Es war wie eine Erlösung: »Ich bin aber Italienerin! Italienerin! Verstehst du?«
    »Tragen Sie zufällig einen Passport auf Ihren Namen?« fragte David.
    Laura begann ihre Kleider zu zerreißen, so heftig, daß die Knöpfe ihrer Bluse wie Schrapnelle wegspickten, und hörte erst auf, als sie splitternackt dastand. Ihr Hintern wogte vor Empörung hin und her. Sie schrie noch immer.
    David fühlte seinen Puls, rechnete die Zeitdauer des Aufruhrs in Sekunden und Minuten um: vier Minuten. In vier Minuten verbrennt ein Tenor, wenn er eine heftige Verdi-Arie singt, zehn Kalorien; eine Landsmännin wie Laura verbrauchte sechsundzwanzig.
    Schließlich hielt sie inne, schluchzend, und rief: »Nimm mich! Befühle mich! Ich will deine starken Hände spüren!«
    Und sie hielt ihm die pralle Welt und Kunst Omai O'Haras hin, gieriger denn je.
    »Nimm mich!« Er packte sie und trug sie ins Schlafzimmer, nicht ahnend, daß sie ein einzigartiges Kunstwerk war, und er arbeitete als Künstler, mit seinem Meißel, streng und für Laura äußerst kalorienverbrauchend. Sie sang eine halbe Oper.
    Das Geheimnis erhöhte ihren Genuß.

ZWEIUNDZWANZIG
    Nach dem langen Kampf küßte sie die Schweißperlen auf Davids Stirn und Brust, salbte den eigenen Schweiß in ihre Hautporen und seufzte glücklich. In ihrer Angst vor allzuviel Glück suchte sie nach etwas, das dieses Glück gefährden könnte, ja, gefährden müßte. Sie fand nichts.
    »Die Wände sind so kahl. Draußen Schnee und innen weiße Wände. Die Eskimos haben's schöner in ihrem Iglu«, jammerte sie.
    Sie hatte ihren Kopf auf Davids Brust gebettet, hörte auf sein Herzklopfen und wartete auf eine Antwort.
    Sie erschrak.
    Die Schweißperlen auf seiner Haut begannen sich in Eiskörner zu verwandeln, und als sie den Kopf hob, erblickte sie Schnee auf seiner Stirn.
    Sie wollte schreien, doch ihr Mund war zugefroren. Sie versuchte aufzustehen, fühlte die Kälte ihrer Glieder, strampelte sich von hauchdünnen Eiskrusten frei und schwankte durch die Schlafzimmertür ins Wohnzimmer. Das Wasser in den Blumenvasen erstarrte zu Eis, und als sie eine der Blumen berührte, zerbrach diese, fiel mit sanftem Klingeln auf den Tisch.
    Alles war vereist.
    Sie sah aus dem Fenster in die Straßenschlucht. Menschen waren stehengeblieben, Fuß vor Fuß, ein zufällig erhobener Arm streckte sich in die Luft wie zum Faschistengruß, Paare hielten in grotesker Verklammerung, Arm in Arm, das Gesicht zum Himmel gestreckt, von dem Schnee fiel, Schnee, viel Schnee.
    Die Leuchtinschriften – der Nachtpuls der City – zerbrachen und erloschen.
    Laura vernahm ein Geräusch, das sie schließlich als Surren des Telephons erkannte. Sie half ihren Knien mit beiden Händen in Richtung des Apparats. Die Bindehaut ihrer Augen war zugefroren, und sie tastete nach dem Gerät, hob den Hörer ab, ächzte sprachlos und vernahm eine energische Stimme.
    Die Stimme sagte: »Hier spricht Gallagher. Es herrscht höchste Gefahr. Die Friedenstauben sind im Anflug. In nicht erwartetem Ausmaß! David soll sich auf den Weg machen. In zwei Stunden ist es zu spät.«
    Die Stimme brach ab.
    Laura stolperte zum Schlafzimmer. Der Eismann, der unsichtbare, ließ für Sekunden ihre Kehle auftauen, und sie flüsterte ins Dunkel: »Gallagher!«
     
    Der Engel Sigron stand mit verschränkten Armen da.

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