Geographie der Lust
angekleidet, wie sie waren – ihrer Nacktheit zu schämen.
In einem Motel betrachtete ein junger Mann den Körper seiner Freundin, die er eben geliebt hatte, und schrie unversehens: »Ich kann deinen nackten Arsch nicht mehr ertragen! Haut, Haut, Haut – unten blaß, oben braun – schämst du dich eigentlich nicht?«
Seine nächtliche Gespielin wurde ihrerseits vom Zorn erfaßt: »Und du? Keine Tätowierung auf dem Bizeps! Keine Pyramide auf dem Hodensack! Keine Teufelsfratze auf dem Rücken! Was bist du bloß für ein Mann?«
Und der junge Mann schrie zurück: »Wenn deine Haut schon gar nichts sehen läßt, so zieh dich gefälligst anständig an.«
Solche Begebenheiten waren an diesem Tag des Omai O'Hara keineswegs selten in Santa Fe.
Auch sehr reiche Männer wurden von der Omai-Hysterie erfaßt.
»Tausende von Dollars jeden Monat in Form von Röcken, Blusen und weiß ich was zieren deinen sogenannten Körper mit seiner sogenannten Haut. Was heißt da Haut? Du Schlampe! Laß dir endlich was Ordentliches in die Poren stechen. Einen Rembrandt meinetwegen, einen Rubens, Rubens, Rubens – Weiber, die Fleisch haben, wenn du schon keins hast, du Gerippe der Atkins- oder Scarsdale-Diät –«
»Und dabei hab' ich für dich gelitten«, gellte seine Frau, riß sich den Schmuck von Hals und Fingern und schmiß ihn dem Mann ins Gesicht. »Für dich! Schau dir bloß deinen Whiskybauch an – Haare, Haare, Haare, und worauf? Auf einer engerlingweißen Haut, nicht zu reden von der Glatze, sonnengebräunt, sonnenölgefettet und sonst kahl, kahl, kahl! Ab morgen wird tätowiert, verstanden!«
Jedenfalls geschah es dergestalt an diesem Tag in Santa Fe. Es war Vollmond. Die Dämmerung ging wie Seifenwasser in die Farbe von Tusche über. Jählings.
Ein einziger Schrei von Menschen stieg auf und blieb wie immer ungehört.
Man erblickte, den Kopf zurückgelehnt, riesige Hände am Himmel, Finger, die ein Instrument umfaßt hielten, das in einer Sekunde fünftausend Pünktchen gleichsam ins Weltall stach. Umrisse entstanden, vage, neue Punktreihen explodierten, Figuren ließen sich erahnen, Gesichter, Körper.
Ganz Santa Fe schrie vor Freude auf, Schrei der Angst und des Entsetzens. Und nun erst begann die Verwandlung des Himmels. Der Himmel wurde von einer Tätowierung nach der andern verziert – zwischen den einzelnen Bildern die Signatur der Künstler, der Tattoo-Künstler: Berühmtheiten von Hamburg bis Amsterdam, von Zürich bis Mailand, von Los Angeles bis Liverpool, von Marseille bis Hongkong und von Singapur bis Athen.
Der Schrecken war so groß wie die Faszination. Niemand konnte sich das phänomenale Geschehen am Himmel erklären.
Das lokale Fernsehen verzweifelte. Die Kameras funktionierten nicht mehr, die Elektrizität fiel aus, das Telephonnetz brach zusammen.
Es gab nur dieses ungeheure tintenfarbene Firmament, das von meteorartigen, gleißenden Fingern, menschlichen Fingern – hunderttausendfach vergrößert – tätowiert wurde: Leonardo da Vincis Abendmahl, sich paarende Fledermäuse auf dem Schulterblatt eines Mädchens von Lal Hardy, die Nackte Maya von Goya, indianische Kriegsbemalungen, Vietnamkriegsbilder in schwarzweiß von Robert Capa – Gelächter, Beifall, Entsetzen – und weiter: Tätowierungen der Hautkünstler Doc Don, Gary Jackson, Tony Cohen, Peter Soldini, Roy Roy, Bob Roberts, Ken Yates, Hanky Panky; Südpolbilder des Fotografen Georg Gerster, und immer wieder erschien das Gesicht Omai O'Haras, in Gold oder Silber gleißend, göttlich, alles überstrahlend.
Orkanartig brach Jubel aus unter den zahllosen Tausenden: Omai! Omai! Omai! O'Hara, O'Hara, O 'Hara, Omai, Omai, Omai, O'Hara…
Die Leute begannen sich zu umarmen, stimmten einen fernöstlich anmutenden monotonen Gesang an, und wieder begann das Unerklärliche: Die himmlischen Tattoos, von irdischen Popmusikern begleitet, rhythmisch wieder synkopisch – chinesische Schriftzeichen erschienen am Himmelsgewölbe, die von van Gogh gemalten Schuhe, Goyas Nackte Maja, eine Hure von Niklaus von Hasenböhler, Mao und Marilyn in den Farben Warhols, Fleckenbilder von Jackson Pollock, farbige Wolken von Sam Francis, Bilder von Gauguin, Holbein, Tintoretto, Piero della Francesca, Kandinski, Chagall, Dali, ja, Hunderte von Bildern…
FÜNFUNDZWANZIG
Santa Fe hatte sich von der übrigen Welt abgesondert. Man stand wie in einer Kathedrale. Der Mond war noch einmal voll und rund.
Und nach mehreren Stunden, die Bilder waren
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