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Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel

Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel

Titel: Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reclam
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uns liegen«, sind die Lebensbedingungen, die einem durch die Gesellschaft auferlegt sind. Man bestimmt sein Schicksal nicht selbst, man erleidet es nur. Das zeigt der Fall Woyzeck.
    3. Etwa zwischen 1885 und 1895 versuchte eine junge Generation von Autoren lautstark die Bühne der deutschen Literatur zu stürmen. Sie proklamierten eine neue Literatur im Zeichen der Naturwahrheit und verhöhnten die damals in Mode stehende Poesie als lügnerisch und als seichtes Klingelklangel. Sie kündigten an, diesen flachen Produkten erfolgreicher Schönschreiber eine zeitgemäße Literatur entgegenzusetzen, die durch ihre neuartige Form die modernen Lebensverhältnisse widerspiegeln sollte. Letztlich wurde nicht viel daraus, vielleicht davon abgesehen, dass das Postulat des Zeitgemäßen, des ästhetisch Neuartigen, das einen radikalen Bruch mit dem Überkommenen verlangte, von nun an aus der Entwicklung der Literatur und der Künste überhaupt nicht mehr wegzudenken war.
    Diese Generation junger Autoren, die Naturalisten, die immerhin am Anfang der literarischen Moderne in Deutschland stehen, beriefen sich zum Teil leidenschaftlich auf das Werk des eben erst wiederentdeckten Georg Büchner (vgl. 4. Werkaufbau ). Das gilt vor allem für Gerhart Hauptmann, den bedeutendsten naturalistischen Dramatiker. Sein skandalträchtiges und ungeheuer erfolgreiches Erstlingsdrama
Vor Sonnenaufgang
(1889) ist, wie die moderne Dramatik überhaupt, in vielerlei Hinsicht dem Vorbild des
Woyzeck
verpflichtet.
    Georg Büchner hatte sich gegen das aus seiner Sicht Unwahrhaftige der damals tonangebenden idealistischen Literatur (in erster Linie die Dramen Schillers) gewandt. Das Drama ist gesprochene Sprache. Und es ist leicht einzusehen, dass die Sprache der älteren Dramen sich von der auf der Straße gesprochenen Sprache abhob. Nicht nur im zeitlichen Abstand von zweihundert und mehr Jahren kommt einem das so vor. Auch damals war das bereits der Fall. Die Figuren der klassischen Dramen verlieren auch in der äußersten Erregung niemals ihre Fähigkeit, in klaren Gedanken, wohlgesetzten Worten und gleichmäßig fließender rhythmischer Bewegung über ihre eigenen und über fremde Handlungen zu reflektieren. Das muss man dem klassischen Drama nicht notwendig zum Vorwurf machen. Richtig ist jedoch, dass die in diesen Dramen dargestellten Schicksale durch die souveräne Art der Akteure, sich darüber zu äußern, ein wenig abstrakt bleiben.
    Mit Georg Büchners sozialem Gewissen, mit seinem konkreten politischen Wirken war eine solche ästhetische Haltung nicht vereinbar. Er ersetzte die fürstliche oder zumindest bürgerliche Hauptgestalt der Tragödie durch die proletarische Hauptfigur. Er rückte entfremdete Arbeit, Armut, psychotische Persönlichkeitsdeformationen und Kriminalität in den Mittelpunkt des Dramas. Er erstickte das getragene Pathos der herkömmlichen Tragödie durch eine neuartige szenische Technik, die den Eindruck auswegloser Hast vermittelt. Und er hat, mehr oder weniger ohne Vorläufer, mit einer staunenswerten Präzision und Wirkungskraft die gesprochene Sprache, das Hauptmittel des Dramas, revolutioniert.
    Gegenüber der Sprache der herkömmlichen Tragödie ist die Sprache im
Woyzeck
zugleich ärmer und reicher: ärmer, weil ihr der rhythmische Gleichklang, die grammatische Richtigkeit, die Beredtheit, die Gewähltheit und Treffsicherheit des sprachlichen Ausdrucks fehlen; reicher, weil sie realitätsgetreu, individuell und vielfältig ist wie das Leben selbst. Die Sprache im
Woyzeck
bildet Ausbildung und Beruf (Fachsprache des Doktors), Schichtenzugehörigkeit (Soziolekt), regionale Verwurzelung (Dialekt) sowie seelische Zustände (Psycholekt) ab. Sie eröffnet Durchblicke auf die Persönlichkeit ihrer Sprecher.
    Die Sprache der Herrschenden drückt deren Überlegenheitsgefühl aus. Der Doktor herrscht durch seine Fachsprache; durch die Fähigkeit, die Sachverhalte auf einen dem Uneingeweihten unverständlichen medizinischen Begriff zu bringen, die Menschen klinisch kühl zu taxieren und sogar zynisch auf Objekte zu reduzieren. Die Reden des Hauptmanns hingegen sind kaum weniger sprunghaft als die der armen Leute und inhaltlich oft ebenso unergiebig. Mit dem Doktor teilt er jedoch offenkundig die Leichtigkeit, mit der er formuliert. Er ist, im Positiven wie im Negativen, ein Schwätzer. Wie vieles andere auch steht ihm eine gedankenlose Sprache zur Verfügung.
    Das gilt nicht für die armen Leute. Insbesondere Woyzeck hat

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