Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel
der Wand«; der historische Woyzeck hatte angegeben, wiederholt Stimmen »in der Nebenkammer« gehört zu haben. Auch die Szene 15, in der Woyzeck von seinem Nebenbuhler zum Trinken aufgefordert und später niedergerungen wird, geht unverkennbar auf das Gutachten zurück (die Redensart »der Kerl pfeift dunkelblau« wurde direkt aus der Quelle übernommen), ist allerdings in ihrer Personenkonstellation deutlich verändert. Von da an überwiegen, wie bereits erwähnt, die Anregungen aus dem Gutachten des Dr. Horn über den Mordfall Schmolling. Der Tatort schließlich entspricht bis in Einzelheiten einer Stelle im Darmstädter Stadtwald (vgl. Erläuterung zu "Links über die Lochschneis ..." ).
2. Die von ihm verwendeten gerichtsmedizinischen Gutachten boten Georg Büchner die Möglichkeit, einer »Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen«. Dieses Verfahren entsprach seiner Vorstellung von der Aufgabe des Dramatikers. Dass es sich dabei nicht um einen Selbstzweck handeln konnte, beweist bereits der Begriff der »Aufgabe«. Folglich ist zu fragen, welchen Zweck Büchner mit seiner Auswahl und Behandlung des Stoffes verfolgte.
Georg Büchner war ein politisch denkender Mensch. Der Autor des
Hessischen Landboten
, der wegen staatsgefährdender Aktivitäten in der hessischen Heimat verfolgt wurde und ins Ausland hatte flüchten müssen, kämpfte nicht für die stärkere Beteiligung der eigenen, der bürgerlichen Klasse an der politischen Macht. Als den wahren Konflikt, der die Gesellschaft zerriss, hatte er den zwischen den materiell Überversorgten und den materiell Unterversorgten erkannt. Im
Hessischen Landboten
ist vom »lange[n] Sonntag der Reichen« und dem »lebenslange[n] Werktag« der Armen die Rede. In einem Brief an die Familie vom Neujahrstag 1836 aus Straßburg heißt es: »Ich komme vom Christkindelsmarkt, überall Haufen zerlumpter, frierender Kinder, die mit aufgerissenen Augen und traurigen Gesichtern vor den Herrlichkeiten aus Wasser und Mehl, Dreck und Goldpapier standen. Der Gedanke, daß für die meisten Menschen auch die armseligsten Genüsse und Freuden unerreichbare Kostbarkeiten sind, machte mich sehr bitter.« Dieses Mitleiden und diese Bitterkeit können als Antrieb Büchners betrachtet werden, die Geschichte des Mörders Woyzeck als Drama zu bearbeiten.
Der Held der antiken Tragödie kämpft gegen ein unentrinnbares, übermächtiges Schicksal. Aus seinem heroischen Scheitern erwächst die tragische Wirkung. Auch Woyzeck ist im Bann eines unentrinnbaren und übermächtigen Schicksals. Sein Schicksal ist jedoch menschengemacht. Er unterliegt nicht dem Zorn der Götter, sondern den gesellschaftlichen Institutionen (Militär, Wissenschaft, Justiz) und ihren blasierten, menschenverachtenden Vertretern.
Dieses menschengemachte Schicksal, der Unterdrückungsapparat, der Woyzeck unterjocht und deformiert, wird von Georg Büchner auf den wenigen Seiten seines Dramas mit großer Genauigkeit analysiert. Diese Analyse muss so konkret und realitätsnah wie möglich sein, sofern sie ihren Zweck, tatsächliche gesellschaftliche Verhältnisse offen zu legen, erfüllen soll. Deshalb ging Büchner vom Fall des Johann Christian Woyzeck aus, dessen Schicksal überdurchschnittlich gut dokumentiert war.
Seiner grundsätzlichen Auffassung folgend, dass Armut und Reichtum die Basis des gesellschaftlichen Machtgefälles bilden, zeigt Georg Büchner, wie Woyzeck durch seine Armut zu einem Unfreien wird; und diese seine Armut ist keine erworbene, sondern eine gegebene. Sie ist nicht in erster Linie die Quittung persönlichen Versagens, sondern der selbstverständliche Lebenshorizont einer benachteiligten Existenz. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts war eine vorher in dieser Form nicht gekannte Massenarmut aufgekommen, die zunächst als Übergangsphänomen innerhalb des Wandels von einer Agrargesellschaft hin zur Industriegesellschaft gedeutet wurde (verbunden mit einer starken Zunahme der Bevölkerung), bevor man erkannte, dass sie ein Strukturmerkmal der sich neu ausbildenden Gesellschaft war.
Zu diesen Armen gehören Franz Woyzeck und Marie Zickwolf. »Wir arme Leut«, sagt Woyzeck zum Hauptmann. »Sehn Sie, Herr Hauptmann, Geld, Geld. Wer kein Geld hat« (Szene 5). »Herr Hauptmann, ich bin ein armer Teufel, – und hab sonst nichts – auf der Welt« (außer Marie), heißt es in der neunten Szene. Marie sagt sich resigniert, sie sei »nur ein arm Weibsbild« (Szene 4). Armut
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