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Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel

Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel

Titel: Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reclam
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wird aber nicht nur behauptet, sondern auch direkt offenbar: Marie hat nur »ein Stückchen Spiegel«, um sich darin zu betrachten (Szene 4). Woyzeck besitzt neben seiner Uniform offenbar lediglich ein privates Kleidungsstück, das »Kamisolchen« (eine Art Weste), das er Andres vermacht (Szene 18).
    Weil er nichts hat, von dem er leben kann, muss er arbeiten, um seinen Lebensunterhalt und den seiner Angehörigen zu verdienen. Und weil die Arbeiten, die er verrichtet, außerordentlich gering bezahlt sind, muss er viele Arbeiten annehmen und ständig von einer Dienstverpflichtung zur nächsten hetzen. Er gehört zu denjenigen, »die durch die angestrengteste Arbeit höchstens das nothdürftigste Auskommen verdienen« können und »auch dessen nicht sicher« sind (Artikel »Pauperismus« im Brockhaus
Conversations-Lexikon
von 1846). Ein einfacher Infanteriesoldat verdiente im Großherzogtum Hessen sieben Kreuzer am Tag, was einem Einzelnen kaum zum Überleben reichte. (Ein Tambourmajor erhielt viereinhalb Mal so viel. Ein Verführungsgeschenk, wie der Nebenbuhler es Marie macht, könnte Woyzeck nicht bezahlen.) Die Forderung, den Sold zu erhöhen, lehnte das Kriegsministerium 1817 mit der Begründung ab, dass es »den Soldaten […] an Gelegenheit nicht fehlt, sich in ihren freien Stunden durch Arbeit etwas zu verdienen«. Nebentätigkeiten der Soldaten während und außerhalb der Dienststunden waren demnach von vornherein einkalkuliert. Dass Woyzeck und Andres in der ersten Szene vor der Stadt Stöcke schneiden, könnte zu solchen Nebenarbeiten gehören. Zudem rasiert Woyzeck den Hauptmann, hilft beim Professor aus und hat sich vor allem dem Doktor als menschliches Versuchstier verdungen.
    Arbeit, nicht als selbstbestimmte Aufgabe, sondern als fremdbestimmte Lohnarbeit verstanden, ist im
Woyzeck
erstmals durchgängiger Gegenstand eines dramatischen Werkes. Nun lässt sich Arbeit, vor allem aber fremdbestimmte Lohnarbeit, nicht ohne weiteres auf die Bühne bringen: Ihre Monotonie, ihre schiere Dauer zermürben nicht nur den Arbeiter selbst, sondern sicher auch den Zuschauer. Georg Büchner löste dieses dramaturgische Problem auf mehreren Wegen:
    Wie über ihre Armut können die Bühnenfiguren auch über die mit ihr verknüpfte Lohnarbeit sprechen. »Alles Arbeit unter der Sonn«, sinniert Woyzeck beim Anblick seines im Schlaf schwitzenden Kindes (Szene 4). Zum Hauptmann sagt er: »Unsereins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt, ich glaub’ wenn wir in Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen« (Szene 5). Die Unentrinnbarkeit des Schicksals, sich in fremdbestimmter Arbeit aufreiben zu müssen, wird in dieser Äußerung eindrucksvoll deutlich. Dennoch ist es klar, dass im Drama Sachverhalte nicht in erster Linie beredet, sondern gezeigt werden sollen.
    Eine Reihe der von Woyzeck verrichteten Arbeiten werden in verschiedenen Szenen in Ausschnitten beleuchtet: das Stöckeschneiden (Szene 1), das Rasieren des Hauptmanns (Szene 5), das Ernährungsexperiment (Szene 8), das Wacheschieben (Szene 11).
    Dass Woyzecks Tage dicht mit Lohnarbeiten ausgefüllt sind, wird auch durch seine in zahlreichen Szenen betonte Gehetztheit deutlich. Den Hauptmann rasiert er so schnell wie möglich, was dieser verständnislos kommentiert. Wenig später hetzt er auf der Straße am Hauptmann und am Doktor vorbei. Nur kurz kann er jeweils bei Marie vorbeischauen, gleich muss er wieder fort. Beim Stöckeschneiden werden Woyzeck und Andres durch das Trommelsignal unterbrochen, das sie zum Appell ruft. Selbst am Sonntag hat Woyzeck mit Andres Dienst in der Wachtstube, während Marie mit dem Tambourmajor zum Tanzen gegangen ist. Um sie dort zu beobachten, muss sich Woyzeck unerlaubt vom Dienst entfernen. Freie Zeit hat er kaum. Nur der abendliche Besuch der Kirmes mit Marie bildet eine Ausnahme (Szene 3).
    Woyzecks Arbeitsüberlastung kommt auch indirekt – durch die Symptome, die diese hervorbringt – zum Ausdruck. Seine Unfähigkeit, sich Marie und dem Kind zuzuwenden, kann auch als Folge seiner körperlichen und seelischen Zurichtung durch unaufhörliche stumpfsinnige Arbeit betrachtet werden. Am eklatantesten in dieser Hinsicht sind jedoch die körperlichen Symptome, die mit dem Ernährungsexperiment einhergehen.
    In der für Woyzecks Gesundheitszustand einschlägigen Szene 10 wird erwähnt, dass Woyzecks Puls ungleichmäßig geht und dass er an Schwindelanfällen und Zittern und seit kurzem auch an Haarausfall leidet, was

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