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Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel

Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel

Titel: Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reclam
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der Doktor ausdrücklich mit der Erbsendiät in Verbindung bringt. Zudem wird am Ende von Szene 9 deutlich, dass Woyzeck stark abgemagert ist (»Spinnenbein«). Wir können demnach konstatieren, dass Georg Büchner das Ernährungsexperiment, dem Woyzeck unterworfen ist, bewusst als Ursache für dessen körperlichen Verfall einfügte.
    Die Erbsendiät als diejenige von Woyzecks Lohnarbeiten, die am heftigsten auf sein Befinden zurückwirkt, bietet aber noch weitere Aufschlüsse. Georg Büchner hat diese Episode nicht den Quellen über Woyzeck oder Schmolling entnommen. Gleichwohl ist auch dieses Experiment keine Ausgeburt einer frei schweifenden dichterischen Phantasie. Die Büchner-Forschung hat im Gegenteil zutage gebracht, dass seit etwa 1815 in Deutschland und Frankreich eine Reihe ähnlicher Menschenversuche vorgenommen worden waren, von denen der Mediziner Büchner offenbar wusste.
    Wie Burghard Dedner feststellt, hat Georg Büchner den Doktor als »einen Vertreter jener zeitgenössischen Theorie darstellen« wollen, »die psychische Störungen durch somatische Krankheiten, vor allem im Magen-Darmbereich, verursacht sah« (vgl. 6. Lektüretipps ,
Erläuterungen und Dokumente,
S. 187). So schreibt beispielsweise der Mediziner Johann Christian Reil, der Genuss von »schwer verdaulichen Nahrungsmitteln«, etwa eben von »Hülsenfrüchten«, »macht zuerst die Nerven des Unterleibes krank, diese afficiren das Gehirn und auf solche Weise entspinnt sich Hypochondrie, die endlich in Melancholie und andere Arten von Geisteszerrüttungen übergehen kann« (
Ueber die Erkenntniß und Cur der Fieber
, Bd. 4, Halle 1805, S. 445). Die Annahme, dass Büchner die Erbsendiät Woyzecks in den Zusammenhang dieser zeitgenössischen medizinischen Spekulation stellen wollte, leuchtet im Zusammenhang mit der dramaturgischen Funktion der Episode unmittelbar ein: Wenn der Doktor Woyzeck wissentlich krank macht, um die medizinische Theorie experimentell zu stützen, wenn die Erbsendiät tatsächlich zu »Geisteszerrüttungen« führen kann, dann ist nicht der Mörder Woyzeck für seine Tat verantwortlich zu machen, sondern der Doktor und mit ihm die medizinische Wissenschaft und mit dieser die Gesellschaft. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es innerhalb der Justiz und der Gerichtspsychiatrie zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung über die Frage der Schuldfähigkeit gekommen. Die idealistisch orientierten Gutachter argumentierten, dass die göttliche Seele prinzipiell unabhängig sei von physischen Einflüssen, dass der Körper dem Geist unterworfen sei und nicht umgekehrt. Ganz in diesem Sinne weist der Doktor Woyzeck zurecht, als diesem »die Natur« gekommen ist und er »an die Wand gepisst« hat: »Die Natur! Hab’ ich nicht nachgewiesen, dass der Musculus constrictor vesicae dem Willen unterworfen ist? Die Natur! Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit« (Szene 8). (Dass der Doktor sowohl die Willensfreiheit vertritt wie auch die Theorie experimentell zu beweisen trachtet, dass eine bestimmte Nahrung zur Geisteskrankheit führen kann, ist offenkundig ein Widerspruch. Dieser lässt sich allenfalls mit dem Hinweis auflösen, der Doktor stehe zwischen zwei wissenschaftlichen Schulen oder: er argumentiere eben, wie es ihm gerade zupass komme.) Während die idealistisch orientierten Wissenschaftler also die Willensfreiheit verfochten, meinte eine materialistisch orientierte Minderheit, dass die Psyche des Menschen, und damit auch der menschliche Wille, im Gegenteil Wirkungen seiner somatischen Organisation seien. Trotz der zahlenmäßigen Unterlegenheit der materialistisch argumentierenden Wissenschaftler hatte sich ihre Position eine gewisse Geltung verschafft und zu einer teilweisen Neuordnung des Strafrechts geführt. Die öffentlich wie fachwissenschaftlich stark diskutierten Fälle der Mörder Schmolling und Woyzeck brachten der liberalen Rechtsprechung jedoch eine folgenreiche Niederlage bei: Beide Täter wurden für uneingeschränkt zurechnungsfähig erklärt. Restaurative Tendenzen gewannen wieder die Oberhand.
    Georg Büchner stand eindeutig auf der Seite der materialistisch argumentierenden Fraktion. Im Februar 1834 hatte er an seine Eltern geschrieben, dass »es in Niemands Gewalt liegt, kein Dummkopf oder kein Verbrecher zu werden, – weil wir durch gleiche Umstände wohl Alle gleich würden, und weil die Umstände außer uns liegen«. Die Umstände, die »außer

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