George, Elizabeth
nicht zu
sehen, und für Tess galt: aus den Augen, aus dem Sinn. Sie besaß die
bewundernswerte Gabe, ganz im Hier und Jetzt zu leben.
So kurz vor der
Sommersonnenwende stand die Sonne trotz der späten Stunde noch hoch am Himmel,
und ihr Licht brach sich in den bunt schillernden Körpern der Libellen und dem
hellen Gefieder der Kiebitze, die aufflogen, sobald Gordon und seine Hündin
sich näherten. In der leichten Brise lag der Geruch nach Torf und der sich
zersetzenden Vegetation, die ihn entstehen ließ. Die Luft war erfüllt von
Geräuschen, angefangen mit den heiseren Schreien der großen Brachvögel bis hin
zu den Stimmen der Leute, die auf der Wiese nach ihren Hunden riefen.
Gordon hielt Tess weiter an
der kurzen Leine. Auf dem Weg zum Hinchelsea Wood ließen sie Wiese und Moor
hinter sich. Wenn er es sich recht überlegte, erschien ihm der Wald ohnehin
geeigneter für einen Nachmittagsspaziergang. Die Buchen und Eichen standen in
vollem Sommerlaub, ebenso die Birken und Kastanien, und unter dem Blätterdach
würde es angenehm kühl sein. Nachdem er den ganzen Tag auf dem Dach geschuftet
und Reet und Stroh geschleppt hatte, war Gordon froh, der Sonne für eine Weile
zu entkommen.
Als sie die beiden Zypressen
erreichten, die den offiziellen Eingang zum Wald flankierten, ließ er Tess von
der Leine und schaute ihr nach, bis sie zwischen den Bäumen verschwunden war.
Irgendwann würde sie von allein zurückkommen. Es war nicht mehr lange bis zum
Abendessen, und Tess verpasste nie freiwillig eine Mahlzeit.
Beim Spazierengehen suchte er
sich immer etwas, auf das er sich konzentrieren konnte. Hier im Wald sagte er
in Gedanken die Namen der Bäume auf. Er erforschte den New Forest, seit er nach
Hampshire gezogen war, und inzwischen, nach zehn Jahren, kannte er seine
Entstehungsgeschichte und seinen Charakter besser als die meisten
Einheimischen. In der Nähe einiger Stechpalmensträucher setzte er sich auf den
Stamm einer umgestürzten Erle. Das Sonnenlicht brach durch die Kronen und
besprenkelte den von jahrelanger natürlicher Kompostierung schwammig weichen
Boden.
Nachdem Gordon die Namen der
Bäume in seiner Umgebung aufgesagt hatte, ging er zu den anderen Pflanzen
über. Allerdings gab es davon nicht allzu viele. Der Wald gehörte zum
Weideland, und Ponys, Esel und Damhirsche ästen hier. Im April und Mai hatten
sie sich an den frischen Farnwedeln gütlich getan, später dann Wildblumen,
Erlensprösslinge und junge Brombeertriebe gefressen. Zwar formten sie auf diese
Weise das Gelände so, dass man gemütlich darin spazieren gehen konnte und sich
nicht mühsam durchs Unterholz kämpfen musste. Doch sie verdarben ihm damit den
Spaß an seinem Denksport.
Er hörte seine Hündin bellen
und richtete sich auf. Er machte sich keine Sorgen, denn er kannte den
unterschiedlichen Klang von Tess' Lauten. Dies hier war ein freudiges Kläffen,
das sie immer anschlug, wenn sie einen Freund begrüßte oder wenn man ein
Stöckchen für sie in den Weiher warf. Trotzdem stand er auf und sah in die
Richtung, aus der das Gebell zu hören war. Es kam näher, und nach einer Weile
hörte er eine menschliche Stimme, die es begleitete, eine weibliche Stimme.
Und gleich darauf sah er sie.
Er erkannte sie nicht gleich,
denn sie hatte sich umgezogen. Statt Sommerkleid, Sonnenhut und Sandalen trug
sie jetzt eine Kakihose und eine kurzärmelige Bluse. Die Sonnenbrille hatte sie
immer noch auf - er ebenfalls, denn es war noch immer sehr hell -, und ihr
Schuhwerk war auch diesmal ziemlich ungeeignet für ihre Erkundungen. Sie hatte
ihre Sandalen gegen Gummistiefel eingetauscht, eine äußerst merkwürdige Wahl
für einen Sommerspaziergang, es sei denn, sie hatte vor, durchs Moor zu waten.
Sie ergriff als Erste das
Wort: »Dacht ich's mir doch, dass es derselbe Hund ist. Er ist wirklich lieb.«
Er hätte schwören können, dass
sie ihm nach Longslade Bottom und in den Hinchelsea Wood gefolgt war - außer
dass sie offenbar vor ihm da gewesen war. Sie war auf dem Weg aus dem Wald
hinaus, er ging in den Wald hinein. Er war Menschen gegenüber misstrauisch,
aber er wollte nicht paranoid wirken.
»Sie waren doch auf der Suche
nach dem Monet's Pond.«
»Und ich habe ihn auch
gefunden«, erwiderte sie. »Allerdings erst, nachdem ich auf einer Kuhweide
gelandet war.«
»Ja«, sagte er knapp.
Sie legte den Kopf schief. Ihr
Haar schimmerte im Sonnenlicht, genau wie zuvor in Boldre Gardens. Aus
irgendeinem idiotischen Grund fragte er sich,
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