Georgette Heyer
schrien und die Pferde
erschrocken mit den Hufen stampften, neigte sich die Kutsche langsam gegen den
Straßengraben, so daß die Tür an Léonies Seite einen knappen Meter von der
Hecke zu liegen kam. Léonie wurde heftig gegen die Kutschenwand geschleudert,
Saint-Vire auf sie, und nur mit äußerster Willenskraft hielt sie sich davor
zurück, eine Hand zu ihrer Rettung auszustrecken.
Saint-Vire
rappelte sich hoch und riß gewaltsam die andere Kutschentür auf, um sich laut
rufend zu erkundigen, was geschehen sei. Victors Stimme antwortete: «Das linke
Hinterrad, M'sieur! Eins der Pferde ist zusammengebrochen und ein Strang
gerissen!»
Saint-Vire
fluchte kräftig und zögerte noch, einen Blick auf seine Gefangene werfend.
Nochmals beugte er sich über sie, um ihren Atemzügen zu lauschen; dann sprang
er auf die Straße und warf den Schlag hinter sich zu. Léonie hörte, wie er sich
in den Tumult draußen mischte, und richtete sich auf. Vorsichtig öffnete sie
die Tür, die sich wie betrunken an die Hecke lehnte, und kroch, tief gebückt,
hinaus. Die Männer standen zu Häupten der Pferde, und Saint-Vire war ihrer
Sicht durch einen der gebeugten Kutscher entzogen. Fast zusammengekrümmt floh
sie, sich knapp an der hohen Hecke haltend, die Straße entlang, bis sie
plötzlich auf eine Lücke in der Hecke stieß, durch die sie ihren Weg in das
jenseitige Feld bahnte. Nun war sie zwar von der Straße aus nicht zu sehen,
doch sie wußte, daß Saint-Vire jeden Augenblick ihre Flucht entdecken konnte.
So lief sie, noch halb betäubt und zitternd, die Strecke, die sie gekommen
waren, zurück, angestrengt nach einem Versteck Ausschau haltend. Das Feld
erstreckte sich zu beiden Seiten dahin; die Straßenbiegung lag noch einige
hundert Meter vor ihr, und es zeigte sich weit und breit weder eine menschliche
Behausung noch ein schützender Wald.
Da hörte
sie von ferne das Getrappel von Hufen auf der harten Straße, das sich aus der
Richtung von Le Havre näherte. Sie lugte durch die Hecke, mit sich ringend, ob
sie es wagen solle, den ungestümen Reiter anzuhalten und um Hilfe zu rufen. Das
Pferd kam um die Biegung. Sie erblickte ein wohlbekanntes blaues Wams, über und
über mit Schmutz besudelt, ein zerrissenes Jabot und ein hübsches braunes
junges Gesicht, das nun erhitzt und erregt war.
Sie brach
durch die Hecke, sprang auf die Straße und winkte mit den Händen.
«Rupert,
Rupert, j'y suis!» schrie
sie.
Rupert
verhielt, riß das Pferd auf die Hinterhand zurück und stieß ein Triumphgeheul
aus.
«Schnell, o
schnell!» keuchte Léonie, zu seinem Steigbügel laufend. Er schwang sie zu sich
empor und setzte sie vor sich.
«Wo ist er?
Wo ist der schwarze Schurke?» fragte er. «Wie bist du ...»
«Dreh um,
dreh um!» befahl sie. «Er ist hier, mitsamt der Kutsche und drei anderen
Männern! Oh, schnell, Rupert!» Sie warf das Pferd herum, doch Rupert brachte es
wieder zum Stehen.
«Nein,
verdammt, ich lechze nach seinem Blut, Léonie. Ich hab mir geschworen ...»
«Rupert,
drei Männer sind noch bei ihm, und du hast keinen Degen! Nun hat er uns
gesehen! Nom de Dieu, en avant!»
Er blickte
unentschlossen über die Schulter. Léonie sah, wie Saint-Vire eine Pistole aus
der Tasche riß, und sie trieb ihre Hacken mit aller Macht in die Weichen des
Pferdes. Das Tier machte einen Satz vorwärts; etwas surrte an Léonies Wange
vorbei und versengte sie; Rupert stieß einen fürchterlichen Fluch aus, das
Pferd raste mit ihnen die Straße hinunter. Ein zweiter Knall, Léonie fühlte, wie
Rupert im Sattel schwankte, und hörte sein rasches Atmen.
«Touché, bei Gott!» keuchte
er. «Fort mit dir, Wildfang!»
«Laisse
moi, laisse moi!» rief
sie, entriß ihm die Zügel und hetzte das Pferd um die Biegung. «Halte dich an
mir fest, Rupert, es geht sehr gut.» Rupert vermochte noch immer zu lachen.
«Sehr gut,
ja? Gott – welch eine – Hetzjagd! Ruhig Blut! Weiter drunten – ist – Seitenweg
– bieg dort ein – nicht nach – Le Havre.»
Sie
wickelte die Zügel um ihre kleinen Hände und ritt tapfer weiter.
«Er wird
auf eines der Pferde steigen», sagte sie in raschem Gedankengang. «Und wird
nach Le Havre reiten. Ja, Rupert, ja, wir wollen in den Seitenweg biegen, mon
pauvre, bist du schlimm verletzt?»
«Rechte
Schulter – 's ist nichts. Sollte – ein Dorf – dort sein. Da ist der Seitenweg!
Zügle ihn, zügle ihn! Braves Mädel! Hei, welch ein Abenteuer!»
Sie stoben
in den Seitenweg, sahen Landhäuser und
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