Georgette Heyer
Wirt
starrte die beiden abwechselnd an und legte seine Stirn in mächtige Falten.
«Ah, nun
versteh ich! Eine Entführung! Da will ich Ihnen aber sagen, Mademoiselle, daß
ich keine ...»
«Ach nein!»
sagte Léonie. «Die Dinge liegen so, daß der – der Mann, der uns verfolgt, mich
aus dem Haus Monseigneurs raubte, und er hat' mich mit Drogen betäubt und nach
Frankreich gebracht, und ich glaube, er hätte mich auch getötet. Doch Milor'
Rupert eilte nach, und unsere Kutsche verlor ein Rad, und ich entschlüpfte und
lief und lief imme weiter. Da kam Milor' herbei, und der Mann, der mich geraubt
hatte, schoß auf ihn, und – und das ist alles!»
Der Wirt rief
ungläubig: «Voyons, was für ein Märchen
erzählen Sie da?»
«Es ist die
reine Wahrheit», seufzte Léonie, «und wenn Monseigneu kommt, werden Sie sehen,
daß alles stimmt, was ich sage. O bitte, Sie müssen uns helfen!»
Gegen ihre
großen flehenden Augen war der Wirt nicht gefeit. «Schon gut!» sagte er. «Hier
sind Sie in Sicherheit, und Hector ist verschwiegen.»
«Und Sie
werden nicht zulassen, daß – dieser Mann – über u kommt?»
Der Wirt
blies seine Wangen auf.
«Ich bin
der Herr im Haus», sagte er. «Und ich erkläre Ihnen, daß Sie hier sicher sind.
Hector soll nach Le Havre um einen Wundarzt rei ten, aber was dieses Geschwätz
von einem Herzog betrifft ...» Er schüt telte nachsichtig den Kopf und schickte
ein Dienstmädchen, das die Au gen aufriß, Madame und etwas Leinen zu holen.
Madame,
eine ebenso umfangreiche Erscheinung wie ihr Gatte, abe trotzdem eine hübsche
Frau, eilte rasch herbei. Nachdem sie einen kur zen Blick auf Lord Rupert
geworfen, erteilte sie knappe Befehle und be gann Leinen in Streifen zu reißen.
Sie wollte niemandem ihr Ohr sehen ken, bevor sie Lord Rupert fest verbunden
hatte.
«Hé, le beau!» rief sie. «Welch eine Niedertracht!
Nun ist's besser. Sie legte den rundlichen Zeigefinger an ihre Lippen, stemmte
die ander Hand in die schwellende Hüfte und stand in Nachdenken versunken da . «Er muß entkleidet werden», bestimmte
sie dann. «Jean, suche ein Nachthemd.»
«Marthe»,
schaltete sich der Gatte ein, «dieser Junge ist eine Dame.
«Quel
horreur!» bemerkte
Madame gelassen. «Ja, wir entkleide ihn am besten, le pauvre!» Sie
wandte sich um, trieb das starrende Mäd chen und Léonie hinaus und schloß die
Tür hinter den beiden.
Léonie
schritt die Treppe hinab und ging in den Hof. Hector war bereits nach Le Havre
aufgebrochen, keine Seele weit und breit zu sehen, und so ließ sich Léonie
erschöpft auf eine Bank beim Küchenfenster fallen und brach in Tränen aus.
«Ah pah!»
apostrophierte sie sich dann selbst heftig. «Bête! Imbécile! Lâche!»
Doch die
Tränen wollten nicht versiegen. Als Madame später in den Hof gesegelt kam, traf
sie eine in Tränen gebadete kleine Gestalt an.
Madame war,
nachdem sie die seltsame Geschichte von ihrem Gatten erfahren, ehrlich entsetzt
und entrüstet. Die Arme in die Hüften gestemmt, begann sie streng: «Das ist
eine große Schlechtigkeit, Mademoiselle! Ich möchte Ihnen nur sagen, daß wir ...»
Sie brach ab und trat einen Schritt näher. «Aber nein, nicht
doch, ma petite! Kein Anlaß zum Weinen. Tais toi, mon chou! Es
wird schon alles gut werden, verlaß dich auf Madame Marthe!» Sie umschloß
Léonie in einer gewaltigen Umarmung, und nach einigen Minuten sagte eine
erstickte Stimme: «Ich weine
ja gar nicht!»
Madame
wurde von einem fetten Kichern erschüttert.
«Nein!» Léonie setzte sich auf. «Aber ach,
ich glaube, ich bin schrecclich unglücklich, und ich wollte, Monseigneur wäre
hier, denn dieser Mann wird uns sicher finden, und Rupert ist doch ein halber
Leichnam!»
«Ist es
denn wahr, daß es da einen Herzog gibt?» fragte Madame.
«Natürlich
ist es wahr!» sagte Léonie empört. «Ich lüge doch nicht!»
«Ein englischer
Herzog, alors? Aber ach, diese Engländer sind alle solch wilde
Gesellen! Aber du – du bist eine Französin, kleines Gemüse?»
«Ja», sagte
Léonie. «Doch ich bin so müde, daß ich Ihnen jetzt nicht die ganze
Geschichte erzählen kann.»
«Ich bin
wirklich ein Dummkopf!» rief Madame. «Du mußt ins Bett, mon ange, mit
einer heißen bouillon und einem Hühnerflügelchen. Das klingt
schon besser, hein?»
«Ja,
bitte», erwiderte Léonie. «Aber Milor' Rupert? Ich fürchte so sehr, daß er
sterben muß!»
«Kleines
Närrchen!» schalt Madame. «Ich sag dir – moi qui te parle –, daß es mit ihm gut
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