Gérards Heirat
die Bürger und Studenten des Stadtviertels zur Zeit der Dämmerung so lustig spazieren gingen. In Gedanken stieg sie wieder die Stufen des Museums hinan, sah wieder die Ecke, in der sie sich mit ihrer Staffelei und ihrem Stück Wachsleinwand eingerichtet hatte, um Rosa Bonheurs Bild »Das Pflügenin Nevers« zu kopieren. Sie hatte Heimweh nach all diesen Dingen; sie hätte zwei Jahre ihres Lebens darum gegeben, wenn sie wieder den Ruf der Aufseher: »Es wird geschlossen!« unter den großen Kastanienbäumen hätte hören können! Von einem Gefühl des Aergers und der Empörung ergriffen, reckte sie die Arme aus und rief zornig:
»Ach! ich langweile mich schrecklich!«
»Wenn ich Ihnen wenigstens behilflich sein könnte, sich zu zerstreuen,« sagte hinter ihr eine scharfe, sehr klangvolle Stimme.
Sie drehte müde den Kopf und sagte: »Ach, Sie sind's, Herr Finoël! Guten Abend!«
»Ich hatte dienstlich bei Herrn Laheyrard zu thun; er sagte mir, Sie seien in Ihrem Atelier und ich habe mir die Freiheit genommen, einzutreten ... Störe ich vielleicht?«
»Gewiß nicht; ich bin nur ein wenig abgespannt, das ist alles ... Sie sind mir sehr willkommen!«
In dem dämmerigen Halbdunkel konnte man die kleine Gestalt und das blasse, von langen Haaren umrahmte Antlitz des Besuchers nur noch undeutlich erkennen. Seine großen, rötlichgelben Augen, seine mageren Wangen und schmalen Lippen hatten jenen leidenden und doch geistvollen Ausdruck, der das Anzeichen einer rhachitischen Körperbildung ist. In der That litt Frank Finoël auch an einer Verkrümmung des Rückgrates, und dieser Mißbildung gerade verdankte er zum Teil seinen nahen Verkehr mit der Familie Laheyrard. In seiner Stellung als zweiter Kanzleivorsteher auf der Präfektur war er zu dem Schulrat in dienstliche Beziehung gekommen, und da er verbindlich, ein angenehmer Gesellschafter und guter Musiker war, hatte Frau Laheyrard, die von der Gesellschaft in Juvigny wenig verwöhnt wurde und ihn für ungefährlich hielt, diesen abgezehrten, kränklichen Besucher sehr entgegenkommend aufgenommen.
»Wie geht es Ihnen heute?« fragte Helene und reichte ihm ihre Hand, die er mit seinen langen, mageren Fingernlebhaft drückte. In dem Tone und der Bewegung des jungen Mädchens lag etwas Freundschaftliches und Weiches. Ihre Herzensgüte trieb sie dazu, gegen dieses kränkliche, mißgestaltete Wesen liebevoll zu sein. Diese teilnehmende Vertraulichkeit überraschte viele, und wer das junge Mädchen nicht kannte, konnte dieses Mitleid leicht für ein wärmeres Gefühl halten. Nach dem plötzlichen Aufleuchten der Augen Frank Finoëls hätte man glauben können, auch er irre sich und tausche sich selbst über die Natur der Freundschaftsbezeigungen des Fräulein Laheyrard.
»Es geht mir immer gut, sobald ich hier bin,« sagte er mit zärtlicher Stimme, »schon die Berührung Ihrer Hände macht mich gesund.«
Sie lachte, zündete die Lichter am Klavier an und sagte:
»Wollen Sie, daß ich vollständig liebenswürdig bin, so erlauben Sie, daß ich mich wieder auf die Staffel setze; die Abendkühle wird meine Nerven beruhigen.«
Auf eine Bewegung des jungen Mannes hin nahm sie ohne Umstände wieder die Stellung ein, in der er sie gefunden hatte, das Haupt in die Hände gestützt, den Blick in die Ferne gerichtet, Frank Finoël saß auf dem Klavierstuhl und verschlang sie mit den Blicken, während sie sich schweigend in ihre Träumereien verlor.
»Sie entsetzen sich hoffentlich nicht allzusehr über meinen Mangel an Höflichkeit?« begann sie wieder. »Ich gereichte nämlich heute im Pfarrhaus schon einmal zum Aergernis und möchte nun diesen Abend nicht noch einmal Anstoß erregen. Dabei fällt mir ein, ich habe heute beim Abbé einen unserer jungen Nachbarn getroffen, einen Herrn von Seigneulles; kennen Sie ihn?«
»Sehr wenig, aber genug, um ihn nicht leiden zu können.«
»Warum? Er hat ein ausdrucksvolles Gesicht, einen stolzen Blick, einen schwarzen Bart und errötet dabei wie ein Schulmädchen, Schüchternheit kleidet dunkle Männer so gut wie der Blütenschmuck einen großen Baum.«
»Gérard von Seigneulles,« fuhr Finoël verächtlich fort, »ist einer jener hübschen Burschen, die schon in Glacéhandschuhen auf die Welt kommen ... Eitel, von beschränktem Verstand, glänzende, unnütze Zierpflanzen ...«
Helene unterbrach ihn. »Ich liebe die Blumen, die zu nichts nutzen,« rief sie in entschiedenem Ton, »ich liebe alles, was farbenreich und glänzend
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