Geraubte Erinnerung
unbewaffnet. Während ich auf die Kugel wartete, die mir den Garaus machte, schien die Zeit rings um mich langsamer zu verstreichen. Geli bewegte sich wie in Zeitlupe, wie eine Leopardin, die ihre Beutebeschleicht. Ich blickte nach unten in Rachels Augen – und wusste, das es das Letzte sein würde, was ich in diesem Leben sah.
Rachel nahm meine Hand und schloss die Augen. In diesem Moment bemerkte ich einen großen roten Knopf auf der Schalttafel neben ihrem Kopf. Die Aufschrift darunter besagte: Pulsfeld-Initiator.
Ohne nachzudenken, hämmerte ich mit der Faust auf den Knopf.
Das Krachen eines Schusses ging fast unter im lauten Kreischen der Super-MRI-Apparatur. Ich blickte auf und sah, wie Geli nach vorn gebeugt stand und ihre heftig blutende Rechte umklammerte. Die gewaltigen Magnete des Scanners hatten ihr die Pistole mit unwiderstehlicher Wucht aus der Hand gerissen und wahrscheinlich einen Finger dazu, wenn nicht mehr.
Die Pistole klebte an der Wand der MRI-Apparatur. Nicht weit daneben hing ein Messer, das vermutlich aus Gelis Gürtel gerissen worden war. Unvermittelt endete das Kreischen; Pistole und Messer fielen klirrend zu Boden.
Geli näherte sich mir. In ihren Augen stand mörderische Wut. Ich trat hinter dem Plexiglaspaneel hervor, doch mit einer verwundeten Schulter konnte ich nicht viel ausrichten. Geli hatte mich auf den Stufen der Union Station in Washington fast umgebracht, und da hatte ich beide Arme benutzen können.
»Warum tun Sie das?«, fragte ich.
Sie versetzte mir einen blitzschnellen Tritt gegen die Brust, und ich ging zu Boden. Ich war noch nicht gelandet, da saß sie bereits rittlings auf mir und hatte meine Kehle gepackt. Ich spürte, wie ihre Daumen nach meiner Luftröhre tasteten.
»Aufhören!«, schrie Rachel hinter der Kontrollstation. »Es gibt keinen Grund mehr!«
Ich versuchte mich zu wehren, doch Geli hatte den Vorteil auf ihrer Seite. Meine Halsschlagadern waren abgeklemmt, und ich spürte, wie mir das Bewusstsein schwand. Ich fühlte mich wie so oft am Rand eines narkoleptischen Anfalls, doch diesmal war es keiner. Kurz bevor die schwarze Welle über mich hinwegrollenkonnte, ertönte ein gellender Schrei. Es war der Schrei eines kleinen Mädchens, das etwas ganz Grauenvolles mit ansehen muss, etwas, das es nicht ertragen kann. Der Schrei war so schrill, dass er fast über die Grenze menschlichen Hörvermögens hinausging, voller Leid und Qual und unmöglich zu überhören. Der Schrei brachte mich zurück. Ich riss die Augen auf … und plötzlich brach er ab. Die nachfolgende Stille war so leer wie ein Planet ohne Atmosphäre.
In die Stille hinein sprach eine Stimme, die aus meinem Kleinhirn zu stammen schien, eine Stimme voll übernatürlicher Ruhe und in einer Tonlage irgendwo zwischen männlich und weiblich.
»Hör mir zu, Geli«, sagte die Stimme. »Der Mann unter dir ist nicht der, den du hasst. Nicht Tennant ist der Mann, den du töten willst. Der Mann, den du töten willst, steht hinter dir.«
Der schraubstockartige Griff um meine Kehle blieb, doch ich spürte, wie Geli sich auf mir umdrehte. Wieder schlug ich die Augen auf. Geli blickte über die Schulter hinweg auf etwas, das ich nicht sehen konnte.
»Bring es zu Ende!«, brüllte eine raue Männerstimme. »Los, tu deine Arbeit!«
General Bauer hatte den Prototyp-Komplex betreten.
Gelis Griff um meine Kehle wurde fester, doch das hasserfüllte Licht in ihren Augen war verschwunden.
»Ich kenne dich, Geli«, sagte die eigenartige Stimme. »Mein Herz fühlt mit dir. Ich weiß, woher deine Narbe stammt.«
Geli erstarrte.
»Hör auf deinen Vater, Geli. Hör auf die Wahrheit.«
Es war General Horst Bauers Stimme, doch sie kam nicht aus Bauers Kehle. Sie kam aus den Lautsprechern Trinitys.
»Diese Narbe? Ich verrate Ihnen, warum Geli sie nie hat beseitigen lassen. Drei Wochen, nachdem ihre Mutter sich umgebracht hatte, kam Geli von der Rekrutenausbildung nach Hause und versuchte mich zu töten.«
Die Hände blieben an meinem Hals, doch alle Kraft war daraus verschwunden.
»Sie hatte gehört, wie die Infanterie in Vietnam ihre verhasstesten Offiziere in die Luft gejagt hatte. Sie wissen schon, eine Granate in die Latrine, während die Burschen drauf sitzen, und rumms! Das war’s.«
General Bauer stand mit zur Seite geneigtem Kopf da und lauschte erstaunt dem Klang seiner eigenen Stimme aus den Lautsprechern. In der rechten Hand hielt er eine schwarze Neunmillimeter Beretta.
»Ich war betrunken in
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