Geraubte Erinnerung
kleinen Karbonröhrchen. Auf dem Bildschirm in der Basis Trinitys sah ich ein Bild von mir selbst und Rachel, die in die Aufnahmeoptik Trinitys blickten.
»Kennst du uns?«, fragte ich Trinity.
»Ja« , antwortete die kindliche Stimme. »Ich kenne euch besser als ihr euch selbst.«
EPILOG
H eutzutage bilden Rachel und ich eine Einheit in Trinitys kohlenstoffbasierten Schaltkreisen und den holographischen Kristallspeichern. Doch wir waren nur ein Startpunkt, kaum mehr als die Eltern eines Kindes, das seine Ursprünge längst hinter sich gelassen hat.
Peter Godin träumte davon, das Bewusstsein vom Körper zu befreien. Er glaubte, dieses Loslösen wäre möglich, weil er der Meinung war, der Verstand wäre lediglich die Summe der neuronalen Verbindungen in unserem Gehirn. Andrew Fielding war anderer Meinung: dass das Ganze etwas Größeres ist als die Summe der Teile. Ich bin immer noch nicht sicher, wer von beiden Recht hat.
Dass Trinity überhaupt erschaffen werden konnte, scheint für Godins Thesen zu sprechen. Doch manchmal in der Nacht, am Rand des Schlafs, spüre ich eine andere Gegenwart in meinem Bewusstsein. Ein Echo jener göttlichen, ungebundenen Sichtweise, von der ich während meines Komas kaum mehr als einen flüchtigen Blick erhascht hatte. Ich vermute, dieses Echo ist Trinity. Und dass Trinity und ich, genau wie Fielding vorhergesagt hat, auf immer in jenem instabilen Grenzbereich zwischen der Welt, die wir um uns herum sehen, und der subatomaren Welt der Quanten, die dem Sichtbaren erst Substanz verleihen, miteinander verflochten sind. Rachel spricht nicht gern darüber, doch auch sie hat es gespürt.
Wie Peter Godin vorhergesagt hat, lässt sich der »neue« Trinity-Computer nicht vom Internet isolieren. Er hält seineVerbindung mit den strategischen Verteidigungscomputern in der ganzen Welt aufrecht und sichert auf diese Weise sein eigenes Überleben. Doch er hat auch niemanden mehr bedroht. Vor kurzem hat Trinity die Führer der Welt darüber in Kenntnis gesetzt, dass es die effektivste Form einer Symbiose zwischen organisch basierter und maschinenbasierter Intelligenz zu erforschen gedenkt.
Der Trinity-Computer ist nicht Gott und gibt auch nicht vor, Gott zu sein. Doch die Menschen sind nicht so schnell bereit, diese Möglichkeit abzutun. Bis zum heutigen Tag sind überall auf der Welt mehr als viertausendeinhundert Trinity gewidmete Webseiten entstanden. Einige werden von New-Age-Jüngern unterhalten, die für die Göttlichkeit des Gerätes werben, andere von Fundamentalisten, die »Beweise« für ihre These aufführen, dass Trinity der in der Offenbarung geweissagte Antichrist ist. Darüber hinaus gibt es Seiten, die rein technisch orientiert sind: Sie verfolgen Trinitys Bewegungen durch die weltweiten Computernetze und kartografieren auf diese Weise die Aktivitäten der ersten meta-humanen Intelligenz auf dem Planeten. Trinity selbst hat die meisten dieser Seiten besucht, ohne jedoch eine Nachricht oder eine Meinung über den dargestellten Inhalt zu hinterlassen.
Eine von Trinitys Hauptsorgen gilt dem unausweichlich kommenden Tag, an dem ein anderer MRI-basierter Computer irgendwo auf der Welt online geht. Um dies zu verhindern, überwacht Trinity den weltweiten Datenverkehr. Doch wie mit der Verbreitung nuklearer Waffen kann auch in dieser Hinsicht technische Überwachung allein nichts garantieren. Die menschliche Natur ist, wie sie ist, und irgendwann wird jemand einen weiteren Trinity-Computer bauen. Von den Deutschen – die offensichtlich von Anfang an Zugang zu Jutta Kleins Super-MRI-Technologie besaßen – heißt es, dass sie im Max-Planck-Institut in Stuttgart einen Prototypen fertig gestellt haben, eine Maschine, die sorgfältig vom Internet isoliert gehalten wird. Gerüchte behaupten außerdem, dass die Japaner auf der InselKyushu ein geheimes Projekt vorantreiben. Warum verschiedene Nationen diese Forschungen trotz der drohenden vernichtenden Sanktionen betreiben, die Trinity über sie zu bringen vermag, entzieht sich jeglichem Verständnis. Die Tatsache, dass es getan wird, ist ein schlagender Beweis für Peter Godins These, dass die Menschen außerstande sind, sich selbst verantwortlich zu regieren.
Die Aussicht auf zahlreiche konkurrierende Trinity-Computer ist Furcht erregend. Es ist nicht bekannt, ob die in der Entwicklung befindlichen Trinity-Computer auf männlichen, weiblichen oder verschmolzenen Neuromodellen basieren. Kann sich ein einzelnes menschliches
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