Geraubte Herzen
reagieren sollte. Endlich sagte sie scheu: »Ich freue mich.«
3
Mr. Griswald legte auf, und Hope saß fassungslos vor dem altmodischen Schaltbrett mit den vielen Lichtern und Steckern. Sie mochte ihn, sie mochte ihn sehr. Der forsche Bostoner Tonfall und diese Loyalität seinem Arbeitgeber gegenüber machten ihn anziehend. Sie fragte sich, wie alt er war und wie er wohl aussah.
Als ob das eine Rolle spielte, rügte sie sich. Zwischen Arbeit, College und Hausaufgaben blieb ihr kaum Zeit zum Atmen, geschweige denn, sich mit Männern zu treffen - sehr zu Madam Naincis Missvergnügen. Trotzdem machte es Spaß, sich mit einem Mann zu unterhalten, der nicht sofort von seinen Problemen erzählte.
Sie zog eine Grimasse und rückte das Headset zurecht.
Alle erzählten sie Hope von ihren Problemen. Hope litt offenkundig an einer Art Charakterfehler.
Mit einem Schwung kalter Luft rauschte Madam Nainci herein und fragte: »Wer war das?« Mit wehenden Fransen
und in eine überwältigende Wolke »Giorgio« gehüllt, drückte Madam Nainci ihre Wange an Hopes und sprach weiter, ohne auf die Antwort zu warten. »Da draußen schneit es wie verrückt. Du solltest den Unterricht ausfallen lassen und zum Abendessen bleiben. In dieses Chaos hinauszugehen ist Wahnsinn.«
Der Auftragsdienst gehörte Madam Nainci und hatte ihr immer gehört. Sie lebte Tag und Nacht mit dem Auftragsdienst, hier in ihrem Wohnbüro in Jamaica Plain, dem schillernden Viertel im Zentrum der Stadt, wo Menschen aller Rassen und sexueller Orientierung wohnten. Madam Naincis ausgeprägter osteuropäischer Akzent ließ sie wie die russische Spionin aus einer Zeichentrickserie klingen. Sie sagte keinem, wie alt sie war, aber Hope schätzte sie auf sechzig. Sechzig und schwer darum kämpfend, wie dreißig auszusehen. Sie war in einen Mantel aus Kunstpelz gehüllt und trug einen schwarz-gold gemusterten Seidenschal um die Schultern. Sie hatte künstliche Fingernägel, auf die kleine Bildchen gemalt waren - Klaviertasten, Vögel oder winzige Berglandschaften -, und an ihren Ohren baumelten goldene Münzen.
Hope vergötterte sie.
»Ich kann den Unterricht nicht ausfallen lassen«, sagte Hope. »Ich habe Schwierigkeiten mit den Grafiken, Shelley Drawater muss mir helfen.«
Madam Nainci nahm ihren flauschigen hellrosa Hut ab, ging zum Spiegel und richtete sich das frisch gesträhnte blonde Haar. »Ist das die Lehrerin?«
»Sie ist eine Schülerin. Unser Lehrer versteht nicht besonders viel von Grafik.« Das war das Problem, wenn man ein öffentliches College besuchte. Die Lehrer waren nicht nur keine Experten, sie waren oft nicht einmal richtige Lehrer. Die Ausstattung der Colleges war häufig veraltet,
und die Lehrpläne waren unausgegoren. Aber Hopes Jungmädchenträume waren auf einem abgelegenen Highway in Texas gestorben, als sie sechzehn Jahre alt war. Schmerz und Verwirrung hatten sie von der beliebtesten Schülerin der High School zur einsamen Exilantin in einer fremden Stadt werden lassen. Jetzt kämpfte sie um Dinge, die einst selbstverständlich gewesen waren - und manchmal, nur manchmal, schien sie dabei Erfolg zu haben.
Madam Nainci hatte Hope, die keinerlei Berufserfahrung besessen hatte, eine Arbeit und mütterliche Zuneigung gegeben, als die Welt kalt und einsam schien.
Madam Nainci stützte die Hände in die Hüften und sagte: »Auf den Straßen häuft sich der Schnee. Die Autos rutschen herum, die Busse fahren nicht. Der Unterricht fällt vermutlich sowieso aus. Hast du daran schon gedacht?«
»Wenn dem so ist, dann bleibe ich da«, sagte Hope resigniert. Madam Nainci hasste Hopes Freitagabendunterricht und sabotierte ihn nach Kräften. Hope tat zwar alles, um ihre Arbeitgeberin zufrieden zu stellen, aber in einer Hinsicht war sie unerbittlich. Sie besuchte den Unterricht, der ihr das Studium an der Boston University ermöglichen sollte. Sie würde einen Abschluss in Computerwissenschaften machen. Sie würde einen hoch bezahlten Job in einem einträglichen Fachgebiet haben. Und wenn sie bis dahin immer noch keine Spur von ihrer Familie gefunden hatte … dann würde sie sich einen Privatdetektiv leisten können, der ihre Angehörigen für sie fand. Irgendwo da draußen waren ihre Schwestern - Pepper, die mittlerweile ein Teenager war, und Caitlin, die jetzt acht war - und ihr Pflegebruder Gabriel. Sieben lange Jahre waren sie jetzt voneinander getrennt. Alle Anrufe bei den Jugendämtern waren vergebens gewesen, und die früheren Nachbarn
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