Gerettet von deiner Liebe
PROLOG
„Gottbewahre! Jedes Mal, wenn ich einen Brief von Sir Joseph erhalte, stockt mir das Blut in den Adern“, verkündete Lord Watchmere beim Frühstück.
Er warf einen Blick zu seiner Frau, den beiden Töchtern und seinem Enkelsohn, ehe er wieder auf das Schreiben starrte. „Es bedeutet nichts Gutes, wenn er mit den Worten beginnt: ‚Mein lieber Watchmere, ich vergaß, Dir mitzuteilen …‘“
„Er muss doch wissen, wie beschäftigt wir sind“, bemerkte Lady Watchmere tadelnd.
Beschäftigt womit?, fragte Susannah Park sich. Verglichen mit dem Großteil der Bevölkerung leben wir doch nur in den Tag hinein. Sie beobachtete ihren kleinen Sohn, der sich nicht für das Gespräch interessierte. Eigentlich müsste sie ihm dringend die Haare schneiden, wartete aber stets so lange wie möglich damit, weil seine Locken sie an ihren Ehemann David erinnerten, der nur noch als Miniaturporträt im ovalen Goldrahmen auf ihrem Nachttisch existierte.
Ihre Mutter ergriff wieder das Wort. „Sir Joseph ist zwar dein Verwandter und Susannahs Pate, dennoch ist er eine Last.“
„Und davon haben wir weiß Gott genügend in der Familie“, bemerkte Loisa spitz.
Der kleine Noah schaute zu Susannah auf und rückte näher zu ihr. Sie strich ihm über die Locken und war sich deutlich bewusst, dass Loisa ihr böse Blicke zuwarf. Wie lange willst du mich noch mit Verachtung strafen, Loie?, dachte sie. Habe ich dir tatsächlich alle Chancen im Leben verdorben, nur weil ich mit David durchgebrannt bin?
Lord Watchmere klärte die Familie über den weiteren Inhalt des Schreibens auf. Der Mann, der in diesem Jahr von der Royal Society mit der Copley-Medaille ausgezeichnet werden sollte, wurde noch diese Woche in London erwartet, und Sir Joseph Banks, Vorsitzender dieser erlauchten Gesellschaft, bat Lord Watchmere um einen Gefallen. „Hör zu Agatha, hier schreibt er: ‚Ein englischer Marineoffizier, der nach einem Schiffbruch fünf Jahre auf einer einsamen Insel gehaust hat und von Missionaren gerettet wurde, kehrte acht Monate nach seiner Rettung in seine Heimat zurück.‘“
Watchmere stocherte mit der Gabel auf den Brief ein. „Hier kommt es, Agatha: ‚Seine Rettung ist ein Segen und seine wissenschaftliche Abhandlung ein großer Triumph für die Royal Society. Leider macht mir meine Gicht sehr zu schaffen, und ich wäre ein schlechter Gastgeber.‘“
Er las weiter und erklärte dann: „Wir sollen diesen komischen Vogel bis zum Festakt bei uns aufnehmen. Danach steigt er in die Postkutsche und kehrt nach Cornwall zurück. Gütiger Himmel, Cornwall.“ Er dachte mit Grausen an die rauen Küsten dort, während er sich an Susannah wandte. „Und nun komme ich zum Postskriptum, meine Liebe. Sir Joseph wünscht, dass du dich dieses Mannes annimmst.“
„Ich?“
„Clarence! Das schickt sich nicht!“, entrüstete sich seine Frau. „Susannah wird … nirgendwo empfangen.“
„Und ich verdanke ihr meinen gesellschaftlichen Ruin“, bemerkte Loisa bissig. „Soll sie tatsächlich mit einem Bauerntölpel aus Cornwall durch die Stadt flanieren?“
„Dann nimmst du dich eben seiner an, Loisa“, legte Lord Watchmere ihr nahe. „Nach den ausgestandenen Strapazen ist er gewiss ein siecher Mann, der keine Ansprüche stellt, abgesehen von einem gelegentlichen Ausflug in den Hyde Park und einem Glas Milch vor dem Schlafengehen.“
„Ich denke nicht daran!“, rief Loisa empört.
Lord Watchmere wandte sich an Susannah. „Also trifft dich das Los, mein Kind. Du neigst nur noch selten zu Unbesonnenheiten.“ Er hüstelte in seine Serviette. „Jedenfalls seit deinem traurigen Fehltritt.“
„Clarence, Susannah ist fünfundzwanzig“, erinnerte ihn Lady Watchmere.
„Und sie hat mehr Verstand als die meisten Frauen, die doppelt so alt sind wie sie“, beendete ihr Mann die Debatte. „Du kannst Spaziergänge mit ihm unternehmen, Susannah, sofern das Wetter es gestattet. Im Übrigen weißt du, wie sehr ich es hasse, mich mit Fremden abzugeben. So etwas ist ermüdend und zu anstrengend für mich.“
Aber trotzdem versuchte Susannah es erneut. „Aber Papa, dieser Mr. …“
Lord Watchmere warf einen Blick auf das Schreiben. „James Trevenen.“
„Ist dieser Mr. Trevenen ein älterer Herr?“
Er zuckte mit den Achseln. „Die Marineoffiziere Seiner bedauernswerten Majestät sind in der Regel junge Männer, aber wer kann das schon wissen. Mr. Trevenens Abhandlung über Krabben lässt eigentlich auf einen älteren
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