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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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bleichen Gesicht und sagte zu seinem Genossen in mildem Tone:
    »Habe ich dir erzählt, wie sie gestorben ist?«
    »Wer denn?«
    »Mein Weib in Rußland.«
    Etienne machte eine ausweichende Gebärde, erstaunt über das Zittern der Stimme und das Bedürfnis nach Vertraulichkeit bei diesem sonst so unempfindlichen Burschen, der in stoischer Abgeschiedenheit von den anderen lebte. Er wußte nur, daß sein Weib eine Geliebte war, und daß man sie in Moskau gehängt hatte.
    »Die Sache war nicht gelungen«, erzählte Suwarin, auf den weißen Lauf des Kanals blickend, der sich zwischen den Reihen der großen, dunklen Bäume verlor. Wir hatten zwei Wochen in einem Loche zugebracht, um die Eisenbahn zu untergraben; aber nicht der kaiserliche Zug flog in die Luft, sondern ein mit Reisenden gefüllter... Dann wurde Annuschka verhaftet. Sie hatte uns, als Bäuerin verkleidet, jeden Abend Brot gebracht. Sie hatte auch die Lunte angezündet, weil man einen Mann leichter hätte bemerken können. Unter der Menge verborgen, folgte ich den Prozeßverhandlungen sechs lange Tage hindurch....«
    Seine Stimme stockte; er wurde von einem Hustenanfall ergriffen und drohte zu ersticken.
    »Zweimal drängte es mich aufzuschreien; ich wollte über die Köpfe hinwegspringen, um zu ihr zu gelangen. Aber was hätte es genützt? Ein Mann weniger bedeutet einen Streiter weniger; und ich merkte wohl, daß sie mir »Nein!« gebot mit ihren starren Blicken, die den meinigen begegneten.«
    Er hustete wieder.
    »Auch auf der Richtstätte fand ich mich ein. Es regnete, und die Ungeschickten verloren darüber den Kopf. Sie brauchten zwanzig Minuten, um vier andere zu hängen; der Strick riß, und sie konnten mit dem Vierten nicht fertig werden... Annuschka stand dabei und wartete. Sie sah mich nicht; sie suchte mich in der Menge. Ich war auf einen Eckstein gestiegen, und da sah sie mich; unsere Blicke verließen einander nicht mehr. Als sie tot war, schaute sie mich noch immer an... Ich lüftete den Hut zum letzten Gruße und ging.«
    Wieder trat Stille ein. Die weiße Allee des Kanals zog sich ins Endlose hin; beide gingen mit gedämpften Schritten, jeder in seinen Gedanken vereinsamt. Das bleiche Wasser schien am Horizont in einem kleinen, hellen Loche zu endigen.
    »Es war unsere Strafe«, fuhr Suwarin in hartem Tone fort. »Unsere Liebe war unser Vergehen... Es ist gut, daß sie tot ist; aus ihrem Blute werden Helden erstehen; ich aber werde keine Schwäche mehr im Herzen haben; keinen Anverwandten, kein Weib, keinen Freund; nichts, was die Hand beben machen würde an dem Tage, wenn es gilt, anderen das Leben zu nehmen oder das seinige hinzugeben.«
    Etienne war in der kalten Nacht fröstelnd stehen geblieben. Er ließ sich mit dem anderen in keine Erörterung ein; er sagte bloß:
    »Wir sind weit; wollen wir zurückkehren?«
    Sie kehrten langsam nach dem Voreux zurück. Nach einigen Schritten setzte er hinzu:
    »Hast du die neuen Anschlagzettel gelesen?«
    Es waren große, gelbe Plakate, welche die Gesellschaft am Morgen hatte anschlagen lassen. Sie führte darin eine deutlichere und versöhnlichere Sprache; sie erklärte sich bereit, die Arbeitsbücher der Bergleute zurückzunehmen, die am nächsten Morgen anfahren würden. Alles sollte vergessen sein; selbst den am meisten Bloßgestellten sollte Verzeihung werden.
    »Ja, ich habe sie gesehen«, antwortete der Maschinist.
    »Und wie denkst du darüber?«
    »Ich denke, daß alles aus ist ... Die Herde wird wieder anfahren. Ihr alle seid viel zu feige.«
    Etienne verteidigte erregten Tones die Kameraden. Ein Mann kann tapfer sein; eine Menge, die Hungers stirbt, ist machtlos. Langsamen Schrittes waren sie bei dem Voreux angekommen. Angesichts der dunklen Masse der Grube fuhr er fort und erklärte, er seinerseits werde nicht mehr anfahren; aber er verzeihe jenen, die anfahren würden. Weil das Gerücht ging, daß die Zimmerleute nicht Zeit genug hatten, die Verzimmerung auszubessern, wollte er darüber Näheres wissen. War es so? Der Druck der Erdmasse gegen die Hölzer, die dem Schachte gleichsam ein Kleid von Balken und Brettern anlegten, soll diese im Innern dermaßen herausgedrängt haben, daß eine der Förderschalen in einer Länge von fünf Metern die Wände streifte. Suwarin war wieder still geworden und gab ihm nur knappe Antworten. Er habe gestern noch gearbeitet, die Schale streife in der Tat die Wände. Die Maschinisten mußten sogar die Geschwindigkeit verdoppeln, um an dieser Stelle

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