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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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mit denen er seine Gewissensbisse bekämpfte, barg sich die dumpfe Besorgnis, sich nicht auf der Höhe seiner Aufgabe gezeigt zu haben, jener Zweifel des Halbwissenden, der ihn stets peinigte. Er fühlte, daß er mit seinem Mut zu Ende sei; er war nicht mehr einig mit seinen Kameraden; er hatte Furcht vor ihnen, vor dieser ungeheuren, blinden, unwiderstehlichen Volksmasse, die wie eine Naturgewalt daherzog, alles hinwegfegend, alle Regeln und Anschauungen zuschanden machend. Ein Widerwille hatte ihn allgemach von diesem Volke losgelöst, das Unbehagen seines verfeinerten Geschmacks, das langsame Emporstreben seines ganzen Wesens zu einer höheren Gesellschaftsklasse.
    In diesem Augenblicke verlor sich Rasseneurs Stimme in dem begeisterten Geschrei der Menge.
    »Hoch Rasseneur! Es gibt keinen zweiten mehr! Bravo! Bravo!«
    Der Schankwirt schloß die Tür, während die Menge draußen sich zerstreute. Die beiden Männer betrachteten einander stillschweigend und zuckten die Achseln. Schließlich tranken sie zusammen einen Schoppen.
    Am nämlichen Tage wurde ein großes Festmahl in der Piolaine veranstaltet. Man feierte die Verlobung von Negrel und Cäcilie. Die Grégoire hatten am vorhergehenden Tage den Fußboden des Speisezimmers frisch wichsen und die Möbel des Salons abstauben lassen. Melanie herrschte in der Küche, überwachte die Braten, rührte die Tunken, deren Geruch bis zum Dachboden emporstieg. Man hatte entschieden, daß der Kutscher Franz bei der Bedienung der Tafel Honorinen helfen solle; die Gärtnerin solle das Tafelgeschirr reinigen, der Gärtner den ankommenden Gästen das Gittertor öffnen. Niemals hatte ein solcher Aufwand von Prunk dieses patriarchalische und ernste Haus aus dem Alltagsgeleise gebracht.
    Alles ging trefflich von statten. Frau Hennebeau zeigte sich überaus liebenswürdig gegen Cäcilie und lächelte Negrel zu, als der Notar von Montsou die Gesellschaft freundlich einlud, auf das Wohl des Brautpaares zu trinken. Auch Herr Hennebeau war sehr liebenswürdig. Seine lachende Miene fiel den Gästen auf; man erzählte sich, daß er bei der Bergwerksverwaltung wieder in Gunst stehe und demnächst Offizier der Ehrenlegion werden solle zum Lohne für die tatkräftige Art, wie er den Streik niedergeschlagen hatte. Man vermied es, von den letzten Ereignissen zu sprechen; aber es lag ein siegreicher Ton in der allgemeinen Freude, das Festmahl gestaltete sich zu einer öffentlichen Siegesfeier. Endlich war man befreit; man konnte wieder in Ruhe essen und schlafen. Doch fiel eine versteckte Anspielung auf die Toten, deren Blut der Boden im Werkshofe von Voreux noch nicht völlig eingesogen hatte; es war eine notwendige Lehre; und alle wurden von Rührung ergriffen, als die Grégoire hinzufügten, daß jetzt jedermann die Pflicht habe, die Arbeiterdörfer aufzusuchen und die Wunden zu verbinden. Sie hatten ihre wohlwollende Ruhe wiedergewonnen und entschuldigten die wackeren Bergleute, als sie diese wieder einfahren sahen, um das gute Beispiel einer hundertjährigen Ergebung zu liefern. Die Notabeln von Montsou, die nicht mehr für Leben und Vermögen zitterten, gaben zu, daß die Lohnfrage eingehend studiert werden müsse. Beim Braten war die Siegesfreude vollständig, als Herr Hennebeau einen Brief des Bischofs verlas, in dem dieser die Versetzung des Abbé Ranvier ankündigte. Die ganze Spießbürgerschaft der Provinz besprach leidenschaftlich die Geschichte dieses Priesters, der die Soldaten Mörder nannte. Als der Nachtisch kam, versicherte der Notar ganz entschieden, daß er ein Freidenker sei.
    Deneulin war mit seinen beiden Töchtern da. Er bemühte sich, inmitten des allgemeinen Frohsinns den Kummer über seinen Ruin zu verbergen. Am Morgen hatte er den Vertrag über den Verkauf seines Unternehmens auf Vandame an die Gesellschaft von Montsou unterschrieben. An die Wand gedrückt und erwürgt, hatte er sich den Bedingungen des Verwaltungsrates gefügt, ihnen endlich die Beute, auf die sie so lange gelauert hatten, für einen Betrag überlassen, der kaum hinreichte, seine Gläubiger zu befriedigen. Er hatte sogar im letzten Augenblick wie einen Glücksfall ihr Anerbieten angenommen, als Abteilungsingenieur in ihre Dienste zu treten; er entschloß sich, als bezahlter Beamter jenes Bergwerk zu überwachen, in dem sein Vermögen begraben lag. Es war das Totengeläute für die kleinen persönlichen Unternehmungen, das baldige Verschwinden der Besitzer, die nacheinander von dem stets hungerigen

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