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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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vorüberzukommen. Aber alle Vorgesetzten hatten für diese Bemerkungen nur eine und dieselbe gereizte Antwort: Man wolle Kohle haben; die Verbesserungen kämen später.
    »Du siehst, die Geschichte geht aus den Fugen«, murmelte Etienne. »Es kann lustig werden.«
    Die Augen auf die Grube gerichtet, die im Dunkel der Nacht nur undeutlich zu sehen war, schloß Suwarin in ruhigem Tone:
    »Wenn die Geschichte aus den Fugen geht, laß die Kameraden es wissen, wenn du ihnen rätst anzufahren.«
    Im Kirchturm von Montsou schlug es neun Uhr; und als sein Gefährte sagte, daß er heimkehre, um zu Bett zu gehen, fügte Suwarin hinzu, ohne dem andern die Hand zu reichen:
    »Nun denn lebe wohl! Ich reise.«
    »Wie, du reisest?«
    »Ja, ich habe mein Arbeitsbuch zurückgefordert und gehe anderswohin.«
    Etienne sah ihn erstaunt und erregt an. Nach einem gemeinsamen Spaziergange von zweistündiger Dauer sagte er ihm das mit ganz ruhiger Stimme, während ihm -- Etienne -- die bloße Ankündigung dieser plötzlichen Trennung das Herz zusammenschnürte. Man hatte Bekanntschaft gemacht, man hatte zusammen gearbeitet: es war traurig zu denken, daß sie einander nicht mehr sehen sollten.
    »Du reisest ab; und wohin gehst du?«
    »Fort; ich weiß es nicht.«
    »Und werde ich dich wiedersehen?«
    »Nein; ich glaube nicht.«
    Sie schwiegen und standen einen Augenblick wortlos einander gegenüber.
    »So lebe wohl!«
    »Lebe wohl!«
    Während Etienne zum Dorfe hinanstieg, machte Suwarin kehrt und ging zum Kanalufer zurück. Er war jetzt allein und wandelte ziellos dahin; gesenkten Hauptes verlor er sich dermaßen ins nächtliche Dunkel, daß er nur mehr ein beweglicher Schatten der Nacht schien. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und zählte die Schläge der Uhr im fernen Kirchturm. Als es Mitternacht schlug, verließ er das Ufer und lenkte seine Schritte nach dem Voreux.
    Zu dieser Stunde war die Grube menschenleer; er fand daselbst nur einen schlaftrunkenen Aufseher. Die Maschine sollte erst um zwei Uhr zur Aufnahme der Arbeit geheizt werden. Zunächst ging er hinauf und nahm aus einem Schrank einen Kittel, den er dort vergessen zu haben vorgab. Verschiedene Werkzeuge, ein Schraubenzieher, eine kleine, sehr starke Säge, ein Hammer und ein Meißel waren in diesen Kittel eingewickelt. Dann ging er wieder fort; aber anstatt durch die Baracke hinauszugehen, schlüpfte er in den engen Gang, der zum Leiternschacht führte. Den Kittel unter dem Arm haltend, stieg er hinab, ganz sachte, ohne Lampe, durch Zählen der Leitern die Tiefe messend. Er wußte, daß die Schale in einer Tiefe von dreihundertvierundsiebzig Metern den fünften Durchlaß der unteren Verzimmerung streifte. Als er vierundfünfzig Leitern hinabgestiegen war, tastete er mit der Hand und fühlte die Anschwellung der Hölzer. Da war es.
    Mit der Geschicklichkeit und der Kaltblütigkeit eines guten Arbeiters, der über sein Werk lange nachgedacht, machte er sich an die Arbeit. Er begann damit, ein Feld in der Holzwand des Schachtes durchzusägen, um eine Verbindung mit der Aufzugsabteilung herzustellen. Bei dem schnell verflackernden Lichte von Zündhölzchen konnte er sich von dem Zustande der Verzimmerung und den in der jüngsten Zeit vorgenommenen Ausbesserungen Kenntnis verschaffen.
    Zwischen Calais und Valenciennes hatte seinerzeit die Abteufung der Schächte unerhörte Schwierigkeiten zu überwinden, denn es galt, durch die Wassermassen zu kommen, die im Grunde der tiefsten Täler unterirdisch lagerten und sich gleich endlosen Seen ausbreiteten. Nur die Konstruktion der Verzimmerungen, die Balken, die gleich den Dauben eines Fasses aneinandergefügt wurden, vermochte den Zufluß aufzuhalten und die Schächte zu isolieren inmitten der Seen, deren tiefe, dunkle Fluten an die Wände schlugen. Bei der Abteufung des Voreuxschachtes hatte man zwei Verzimmerungen anlegen müssen, die des oberen Niveaus, wo Sand und Lehm, mit Wasser getränkt wie ein Schwamm, das kreidige, nach allen Richtungen zerrissene Erdreich umgaben; dann die des unteren Niveaus, direkt oberhalb des kohlenhältigen Bodens, durch feinen, gelben Sand, der dahinrann, als sei er flüssig. Hier befand sich das unterirdische Meer, der Schrecken aller Kohlengruben im Norden, ein Meer mit seinen Stürmen und Schiffbrüchen, ein unbekanntes, unergründliches Meer, das in einer Tiefe von mehr als dreihundert Metern unter der Erdoberfläche seine schwarzen Fluten wälzte. Gewöhnlich waren die Verzimmerungen stark genug,

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