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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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nicht einmal der Gedanke, seine Kleider zu wechseln. Es schlug drei Uhr. Er blieb auf der Straße stehen und wartete...
    Zur selben Stunde ward Etienne, der wach auf seiner Matratze lag, durch ein leises Geräusch beunruhigt, das in der stockfinsteren Stube zu vernehmen war. Er unterschied den leisen Atemzug der Kinder, das Schnarchen des alten Bonnemort und der Frau Maheu, während Johannes neben ihm ein anhaltendes, flötenartiges Pfeifen vernehmen ließ. Ohne Zweifel hatte er nur geträumt; er wollte sich eben zur Wand umkehren, als das Geräusch wieder anhob. Es war ein Knistern des Strohsackes, die vorsichtige Anstrengung eines Menschen, der sich von seinem Lager erhebt. Da dachte er sich, Katharina sei vielleicht unwohl.
    »Bist du es? Was ist dir?« fragte er mit leiser Stimme.
    Niemand antwortete; nur das Schnarchen der anderen dauerte fort. Fünf Minuten rührte sich nichts, dann begann das Knistern von neuem. Weil er dieses Mal sicher war, sich nicht getäuscht zu haben, ging er durch das Zimmer und streckte in der Finsternis die Hände nach dem gegenüber stehenden Bette aus. Seine Überraschung war groß, als er das Mädchen sitzen fand. Sie war wach und lauschte mit zurückgehaltenem Atem.
    »Warum antwortest du nicht? Was machst du denn?«
    »Ich stehe auf«, sagte sie schließlich.
    »Zu dieser Stunde stehst du auf?«
    »Ja, ich kehre zur Arbeit in die Grube zurück.«
    Etienne war sehr ergriffen und mußte sich auf den Rand des Strohsackes setzen, während Katharina ihm ihre Gründe erklärte. Sie leide zuviel bei diesem müßigen Leben und empfinde zu schwer die vorwurfsvollen Blicke, die fortwährend auf ihr ruhten; sie wolle sich lieber der Gefahr aussetzen, in der Grube von Chaval gestoßen zu werden. Wenn die Mutter das Geld zurückweisen solle, das sie ihr bringen werde, so sei sie groß genug, um für sich zu leben und ihre Suppe zu kochen.
    »Geh«, ich will mich ankleiden. Wenn du gut zu mir sein willst, sagst du nichts.«
    Doch er blieb neben ihr; er hatte den Arm um ihren Leib gelegt mit einer Liebkosung, in der sich Kummer und Mitleid ausdrückten. Im Hemde, eng aneinander geschmiegt, fühlten sie die Wärme ihrer nackten Haut am Rande dieses noch von der Nachtruhe warmen Lagers. Sie hatte mit der ersten Bewegung sich von ihm losmachen wollen; dann hatte sie still zu weinen begonnen, hatte ihn auch ihrerseits umhalst, um ihn in einer verzweifelten Umschlingung Leib an Leib zu behalten. So blieben sie ohne ein anderes Verlangen mit der Vergangenheit ihrer unglücklichen Liebe, die sie nicht hatten befriedigen können. War es denn aus für immer? Würden sie es nicht wagen, sich eines Tages zu lieben, jetzt, da sie frei waren? Nur ein wenig Glück wäre notwendig gewesen, um ihre Scham zu verscheuchen, dieses Unbehagen, das sie hinderte, sich zusammenzutun, wegen allerlei Gedanken, in denen sie selbst nicht ganz klar lasen.
    »Lege dich wieder«, flüsterte sie. »Ich will kein Licht machen, um die Mutter nicht zu wecken... Es ist Zeit zum Aufbruch; laß' mich!«
    Er hörte nicht, preßte sie nur sinnlos an sich, das Herz von unendlicher Trauer erfüllt. Ein Bedürfnis nach Frieden, ein unüberwindliches Bedürfnis, glücklich zu sein, bemächtigte sich seiner; er sah sich schon verheiratet in einem sauber gehaltenen Häuschen ohne einen andern Ehrgeiz, als mit ihr da zu leben und zu sterben. Mit trockenem Brote würde er sich begnügen; und wenn nur für einen Brot da wäre, so wäre es für sie. Wozu noch etwas anderes? War denn das Leben mehr wert?«
    Doch sie machte jetzt ihre nackten Arme los.
    »Laß mich, bitte!«
    In einer Aufwallung seines Herzens sagte er ihr ins Ohr:
    »Warte, ich gehe mit dir.«
    Er selbst war erstaunt, dies gesagt zu haben. Er hatte geschworen; nicht wieder anzufahren; woher kam dieser plötzliche Entschluß, der seinen Lippen entschlüpft war, ohne daß er daran gedacht oder die Sache einen Augenblick erwogen hätte. Jetzt erfüllte ihn solcher Friede, eine so vollständige Genesung von seinen Zweifeln, daß er hartnäckig bei seinem Entschlüsse beharrte als ein durch den Zufall Geretteter, der endlich den einzigen Ausweg aus seinem Leid gefunden. Er wollte sie auch nicht anhören, als sie alles aufbot, ihn von seinem Entschlüsse abzubringen, weil sie begriff, daß er sich für sie opfere, und weil sie die bösen Reden fürchtete, mit denen man sie in der Grube empfangen würde. Doch er erklärte, sich um niemanden zu kümmern; die Anschlagzettel verhießen

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