Germinal
Rücken zu. Was hatte dieser Verräter den Eifrigen zu spielen? Die Anfahrt hatte ihn nicht zu kümmern. Seine Leute verabscheuten ihn schon genug. Sie blieb noch weiter, mit der Lampe in der Hand, fröstelnd in dem ewigen Luftzug, wenngleich das Wetter schon milde war.
Weder Etienne noch sie fand mehr ein Wort zu sagen. Sie standen einander gegenüber mit so schwerem Herzen, daß sie sich noch etwas hätten sagen mögen.
Endlich sprach sie, nur um etwas zu sprechen:
»Die Levaque ist schwanger. Levaque sitzt noch im Gefängnisse. Bouteloup ist inzwischen sein Stellvertreter.«
»Ach ja, Bouteloup.«
»Hör' einmal, habe ich dir schon erzählt? ... Philomene ist fort.«
»Wie, fort?«
»Ja, mit einem Grubenarbeiter aus dem Pas-de-Calais. Ich hatte Angst, daß sie mir die zwei Rangen vielleicht auf dem Halse lassen könne. Doch sie hat sie mitgenommen ... Ist das nicht drollig; ein Weib, das Blut speit und aussieht, als müsse es jeden Augenblick abfahren!«
Sie stand einen Augenblick nachdenklich da; dann fuhr sie langsam fort:
»Auch über mich wurde genug geredet! ... Erinnerst du dich? Man sagte, daß ich bei dir schlafe. Mein Gott! Nach dem Tode meines Mannes hätte es wohl geschehen können, wenn ich jünger gewesen wäre; nicht wahr? Aber heute ist mir lieber, daß es nicht geschehen ist; denn wir würden nur Reue darüber fühlen.«
»Ja, wir würden Reue darüber fühlen«, wiederholte Etienne.
Das war alles; sie sprachen nicht mehr. Eine Schale erwartete sie; man rief sie zornig an und drohte ihr mit einer Strafe. Da entschloß sie sich und reichte ihm die Hand. Sehr ergriffen schaute er sie noch immer an, wie sie so arg mitgenommen, so abgelebt war, mit ihrem fahlen Antlitze, ihrem unter der blauen Haube hervorquellenden, farblosen Haar, dem Körper eines braven, fruchtbaren Weibchens, ganz unförmlich in dem Beinkleid und dem Leinwandkittel. In diesem letzten Händedruck fand er jenen der Kameraden wieder, einen langen, stummen Händedruck, der ihm Stelldichein gab für den Tag, an dem man wieder anfangen werde. Er begriff vollkommen: in der Tiefe ihrer Augen lag ihre ruhige Zuversicht. Auf baldiges Wiedersehen! sagte der stumme Blick; dann aber soll der Hauptstreich geführt werden.
»Ist das eine verdammte Müßiggängerin!« schimpfte Pierron.
Die Maheu wurde zur Schale gedrängt und stieg mit vier anderen ein. Man zog die Signalschnur, die Schale hakte sich los und versank in der Tiefe; man sah nur mehr den reißenden Lauf des Kabels.
Etienne verließ die Grube. Unter dem Sichtungsschuppen sah er ein Wesen mit ausgestreckten Beinen mitten in einer dichten Kohlenlage auf der Erde sitzen. Es war Johannes, der als »Reiniger« angestellt war. Er hielt einen Kohlenblock zwischen den Beinen und säuberte denselben mit Hammerschlägen von den Schieferbruchstücken; ein feiner Kohlenruß legte sich so dicht auf sein Gesicht, daß der junge Mann ihn niemals erkannt haben würde, hätte der Knabe nicht seine Affenfratze mit den weit abstehenden Ohren und den grünlichen Augen gehabt. Er lachte frech und zerschlug den Block mit einem letzten Streich, völlig eingehüllt von dem auffliegenden Kohlenstaube.
Als Etienne wieder draußen war, folgte er einen Augenblick nachdenklich der Straße. Eine Menge Gedanken aller Art jagte sich in ihm. Aber er hatte das Gefühl der frischen Luft, des freien Himmels und schöpfte tief Atem. Die Sonne stieg siegreich am Horizont empor; frohes Leben erwachte in der ganzen Landschaft. Eine Goldflut ergoß sich von Osten nach Westen über die unermeßliche Ebene. Diese Lebenswärme breitete sich immer weiter aus in einem Frösteln der Jugend, in dem die Seufzer der Erde, der Sang der Vögel, das Rauschen der Bäche und Wälder nachzitterten. Das Leben war schön; die alte Welt wollte noch einen Frühling durchleben.
Von dieser Hoffnung durchdrungen, verlangsamte Etienne seinen Gang, und seine Augen schweiften nach rechts und links, inmitten der Schönheit der neuen Jahreszeit. Er dachte an sich selbst; er fühlte sich stark, gereift durch die harten Erfahrungen in der Grube. Seine Erziehung war beendet; er zog gerüstet weiter als denkender Soldat der Revolution, welcher der Gesellschaft den Krieg erklärt hat, -- der Gesellschaft, wie er sie sah, und wie er sie verdammte. In seiner Freude darüber, daß er sich an die Seite Plucharts begab und -- gleich Pluchart -- ein angehörter Führer werden solle, ordnete er sich die Worte seiner künftigen Reden. Er gedachte
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