Germinal
Grégoire betrauten Cäcilie damit, ihre Almosen auszuteilen. Dies paßte zu ihren Begriffen von einer guten Erziehung. Man mußte mildtätig sein; sie sagten selbst, ihr Haus sei das Haus des lieben Gottes. Sie schmeichelten sich übrigens, die Wohltätigkeit mit Klugheit zu üben; denn es plagte sie die ewige Angst, betrogen zu werden und das Laster zu unterstützen. Darum schenkten sie niemals Geld, niemals! Nicht zehn Sous, nicht zwei Sous; denn es sei bekannt, daß ein armer Mensch, sobald er zwei Sous besitze, sie vertrinke. Ihr Almosen bestand stets in Naturalartikeln, besonders in warmen Kleidern, die zur Winterszeit an die armen Kinder verteilt wurden.
»O, die armen Kleinen!« rief Cäcilie; »wie bleich sie von der Kälte sind! ... Honorine, hole das Bündel aus dem Schrank!«
Auch die Mägde betrachteten die Unglücklichen mit Erbarmen und mit der Unruhe von Mädchen, die wegen ihres Mittagessens keine Sorge haben. Während das Stubenmädchen hinaufging, vergaß sich die Köchin, stellte den Rest des Kuchens wieder auf den Tisch hin und stand mit hängenden Armen da.
»Ich habe gerade noch zwei wollene Kleider und zwei Tücher«, sagte Cäcilie. »Sie werden sehen, wie gut warm die armen Kleinen angekleidet werden.«
Endlich fand die Maheu die Sprache wieder.
»Vielen Dank, mein Fräulein«, stammelte sie. »Sie alle sind sehr gütig ...«
Tränen füllten ihre Augen; sie glaubte sich der hundert Sous sicher und dachte nur an die Art und Weise, wie sie diese verlangen sollte, wenn man ihr sie nicht anbieten werde. Die Kammerfrau kam nicht sogleich zurück; es trat ein Augenblick verlegenen Schweigens ein. Die Kleinen hingen an den Röcken der Mutter und machten große Augen auf den Kuchen.
»Sie haben nur diese zwei?« fragte Frau Grégoire, um das Stillschweigen zu brechen.
»0, Madame, ich habe sieben.«
Herr Grégoire, der sich wieder in seine Zeitung vertieft hatte, fuhr entrüstet auf.
»Sieben Kinder! Aber warum denn, lieber Gott!«
»Das ist unklug«, murmelte die alte Dame.
Die Maheu machte eine unbestimmte Gebärde der Entschuldigung. Mein Gott, das kommt von selbst, man denkt gar nicht daran. Und dann: wenn die Kinder einmal größer werden, helfen sie mit erwerben und das Haus erhalten. Auch sie könnten sich ganz gut fortbringen, wenn der Großvater nicht wäre, der schon kaum mehr arbeiten könne, und wenn von den vielen Kindern nicht bloß drei so weit wären, zur Grube anzufahren, zwei Söhne und ihre älteste Tochter. Man müsse aber auch die Kleinen ernähren, die noch nichts leisten können.
»Arbeiten Sie schon lange in den Gruben?« fragte Frau Grégoire weiter.
Ein stummes Lachen erhellte das bleiche Antlitz der Maheu.
»O ja, o ja .... Ich bin bis zu meinem zwanzigsten Jahre angefahren. Als ich mein zweites Kind hatte, sagte der Arzt, ich müsse zugrunde gehen, wenn ich noch länger in den Gruben arbeitete. Es schien mir die Knochen zu verderben. Übrigens heiratete ich damals und hatte in meiner Haushaltung genug zu tun .... Aber die Familie meines Mannes arbeitet seit einer Ewigkeit in den Gruben; der Großvater des Großvaters war schon dabei; sie taten mit bei dem ersten Spatenstich im Réquillartschachte.
Herr Grégoire betrachtete sinnend diese Frau und ihre bedauernswerten Kinder mit ihrem wachsbleichen Fleische, ihren farblosen Haaren, die Entartung, in der sie verkümmerten, von Blutlosigkeit verzehrt, von der traurigen Häßlichkeit der Hungerleider. Es war wieder still geworden in dem Gemach; man hörte nur die Kohle knistern, von der ein Gasqualm aufstieg. Das warme Gemach hatte jene schwere Luft, in der die spießbürgerliche Wohlhabenheit schlummert.
»Wo bleibt sie denn so lange?« rief Cäcilie ungeduldig. »Melanie, geh hinauf und sage ihr, das Bündel liege im Schranke unten links.«
Herr Grégoire schloß inzwischen laut die Betrachtungen, welche der Anblick dieser Hungerleider in ihm angeregt hatte.
»Es gibt viel Ungemach hienieden, das ist wahr; allein, gute Frau, es muß auch gesagt werden, daß die Arbeiter nicht sehr vernünftig leben ... Anstatt einen Spargroschen beiseite zu legen wie unsere Bauern, trinken die Grubenarbeiter, machen Schulden und haben schließlich kein Brot für Weib und Kinder.«
»Der gnädige Herr hat recht«, antwortete Frau Maheu ernst. »Man geht nicht immer den richtigen Weg. Das sage ich immer den Taugenichtsen, wenn sie sich beklagen ... Ich habe es noch gut getroffen, mein Mann trinkt nicht. Dennoch geschieht
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