Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006
nämlich ist zugleich Wähler.
Daher achtet ihn der, der gewählt werden will,
Und vermeidet jeglichen Fehler.
Zum Beispiel den, ihm vorzuspieln,
Die Einheit werde nichts kosten.
Und wird schon dem Westen reiner Wein eingeschenkt,
Dann auch reiner Wodka dem Osten.
»Nach dem Beitritt wird's niemandem schlechter gehn,
Aber vielen, die beitreten, besser« -
Das meint: Wer bisher mit der Gabel aß,
Ißt fortan mit Gabel und Messer.
Wen schert da noch, was der Teller birgt.
Ist's Fleisch? Sind's die Knochenreste?
Hauptsache, der Teller hat einen Belag
Und der Ober 'ne reinliche Weste.
Er tischt schweigend auf, beißt prüfend in Fleisch,
Er schaut, daß der Markknochen hohl ist -
Was kann er dafür, daß die Beilage seit
Nun gut fünfzehn Jahren nur Kohl ist?
Doch genug vom drögen Kohl-Küchen-Latein!
Du, Heine, hast andere Fragen:
Regiern hier noch Kirche, Heer und Zensur?
Dazu laß dir folgendes sagen:
Es hat die Kirche verloren ganz
Vor dem Geschlecht das Grauen.
In Fulda wird Bischof Dyba demnächst
Die ersten Schwulen trauen.
Es ist unser Heer derart radikal
Der Idee des Friedens verpflichtet,
Daß es auf den Dienst mit dem Schießgewehr
Zugunsten des Ölzweigs verzichtet.
Zur Zensur: Die findet hier so nicht statt.
Hier steht jedem frei zu erraten,
Wonach Intendant und Verleger grad ist:
Nach Müsli? Nach Fisch? Nach Braten?
Kämst du, Heine, heute über die Grenz',
Die Augen tätest dir reiben:
In Gutdeutschland, diesem Sommernachtstraum,
fändest du keinen Anlaß zu schreiben.
Gutdeutschland ist kein Augiasstall.
Hier gibt es nichts auszumisten.
Und gäb' es doch was, dann gibt es ja noch
Die deutschen Kabarettisten.
Gutdeutschlands Kabarettisten all,
Die deinen Witz so sehr lieben,
Auch wenn ihre Witze oft derart sind,
Als habest du niemals geschrieben.
Heine! Gutdeutschland gedenkt heuer dein!
Und du? Hat's die Sprach' dir verschlagen?
Könntest du nicht, wackerer Jubilar,
Deinen Deutschen was Freundliches sagen?
Oder stehst du noch immer mehr auf Kritik?
Ist okay, wenn sie's konstruktiv meint.
Doch bedenke: Es wäre nicht grade fair,
Falls unsre Gradheit dir schief scheint.
Gutdeutschland freilich vertrüge selbst dies.
Wir sind nämlich unheimlich offen.
Daß du, Heine, das als Chance begreifst,
Können wir Gratulanten nur hoffen.
XII
Er liest den späten Heine
Augen hat uns zwei gegeben
Gott der Herr, daß wir erleben,
Wie das jahrelange Sterben
Heines Witz nicht konnt' verderben.
Augen gab uns Gott ein Paar,
Zu erkennen rein und klar:
Dieses Menschen Todesröcheln
Überstrahlte noch sein Lächeln.
Gott gab uns die Augen beide,
Daß wir schauen und begaffen,
Wie er jemanden erschaffen
Zu des Menschen Großhirnweide.
Jemand sonder Licht und Luft,
Der in der Matratzengruft
Lahm und leidend niederschrieb,
Was ihm noch zu sagen blieb.
Klagen, sicher, Flüche, freilich,
So verständlich wie verzeihlich,
Doch zugleich auch wunderbare,
Völlig losgelöste Sachen,
Teils zum Schaudern, meist zum Lachen,
Leichte Früchte schwerster Jahre:
»Gott gab uns nur einen Mund,
Weil zwei Mäuler ungesund«,
Schrieb der Kranke unerschrocken
Und rät munter nachtarocken:
»Mit dem einen Maule schon
Schwätzt zuviel der Erdensohn.
Wenn er doppelmäulig wär,
Fräß und lög' er auch noch mehr.
Hat er jetzt das Maul voll Brei,
Muß er schweigen unterdessen,
Hätt er aber Mäuler zwei,
Löge er sogar beim Fressen.«
So was auf des Todes Schwelle
Hinzuschreiben auf die Schnelle
Ist so herzerwärmend dreist,
Weil es zweierlei beweist.
Erstens: Vor der letzten Nacht
Hat sich's noch nicht ausgelacht.
Zweitens: Wahrer Dichtermund
Tut noch sterbend Wahrheit kund.
Heine bleibt dabei unfaßbar:
Spielt den Wachtmeister, den Kasper,
Spielt die Grete, spielt den Drachen,
Spielt den Starken, spielt den Schwachen,
Spielt den Herrgott, spielt den Teufel,
Macht in Glauben, macht in Zweifel,
Spielt und macht: So, wie er lebte,
Jauchzte, liebte, haßte, bebte,
Lachend litt und schreibend fühlte,
Also starb er. Nie erkühlte
Trotz der jahrelangen Leiden
Heines Doppelliebe. Beiden
Hielt er unbeirrt die Treue
Ohne Zweifel, ohne Reue:
Den Geschwistern Witz und Wahrheit
Alias Helligkeit und Klarheit.
Heines Witz erhellt noch heute.
Heines Wahrheit klärt noch. Leute!
Diesen Mann zu ehren heißt,
Daß man eignen Witz beweist.
Gott gab uns zwar nur ein Hirn,
Doch dies Hirn beschützt die Stirn.
Ergo mangeln den Geschöpfen
Keine
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