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Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Titel: Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Gernhardt
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lesen.
    V
    Er beginnt die Lektüre
    Ein Buch zu öffnen, meint auch zu verreisen.
    Heißt mehr noch: sich auf Neuland vorzuwagen.
    Ob seine Worte brechen oder tragen,
    Muß sich beim Lesen Satz für Satz erweisen.
    Der Heine trug sogleich. Wie man das Eisen
    Durch kunstvolle Chemie in Stahl verwandelt,
    Hat er das Wort gestählt, das, so behandelt,
    Imstand ist, jeden Diensts sich zu befleißen,
    Den ihm der Dichter abverlangt. Und Heine
    Verlangte viel. Der Kranz seiner Sonette,
    Dem er den Titel »Fresko« gab, alleine
    Würd', wenn er andres nicht geschrieben hätte,
    Genügen, seinen Namen zu bewahren:
    So jung und schon so leid- und kunsterfahren!
    VI
    Er liest im »Buch der Lieder«
    Das »Buch der Lieder« zu lesen,
    Ist manchmal schon eine Straf'.
    Das stete Lieben und Leiden
    Wiegt selbst den Wachsten in Schlaf.
    Das ständige Scheiden und Meiden
    Stets nasser Äugelein klein,
    Getragen vom Heben und Senken
    Unzähliger Vierzeiler fein
    Mit all ihren grausamen Liebchen
    Und all ihren Nixen so kalt,
    Sie ließen den Leser oft seufzen:
    Ich fürchte, hier werd ich nicht alt.
    Doch dann stößt er plötzlich auf Zeilen
    Zu enden all seine Not,
    Auf so gewaltige Schlüsse
    Wie »Ich wollt', er schösse mich tot.«
    VII
    Erinnerung
    Warum hab' ich nicht mit achtzehn Jahr
    Den Heinrich Heine gelesen?
    Warum ist mir nicht bei so manchem Gedicht
    Feinsliebchen vor Augen gewesen?
    Ich hatte mit achtzehn kein Liebchen hold
    Und las auch keine Gedichte.
    Ich las Sartre und wichste so vor mich hin.
    Das ist die ganze Geschichte.
    VIII
    Er liest »Die Nordsee«
    Das Sonnenlicht brannte
    Auf das weithinwallende Arnotal,
    Fern begrenzt vom blauen Kamm
    Des hochragenden Pratomagno.
    Ich aber saß im Schatten der Pergola,
    Weinlaubgeschützt,
    Die nackten Füße auf kühlenden Fliesen,
    Und über die Schulter
    Blickten Oleanderblüten mir;
    Tiefrote Oleanderblüten
    Nickten im fächelnden Wind,
    Lächelnde Oleanderblüten
    Fragten mich mädchenneugierig:
    Was liest du da, Fremder?
    Aufblickend sprach ich: Ich lese Heine,
    Sämtliche Gedichte
    In zeitlicher Folge
    Herausgegeben von Klaus Briegleb.
    Grad bin ich mitten im Zyklus »Die Nordsee«,
    Grad sitzt der Dichter auf »weißer Düne
    Am einsamen Strand«,
    Auch er nicht ohn' Büchlein:
    »Und ich las das Lied vom Odysseus,
    Das alte, das ewig junge Lied,
    Aus dessen meerdurchrauschten Blättern
    Mir freudig entgegenstieg
    Der Atem der Götter,
    Und der leuchtende Menschenfrühling
    Und der blühende Himmel von Hellas.«
    So las ich's unter dem blühenden Himmel Italiens,
    Und meine Brust schwoll auf wie das Meer des Nordens,
    An welchem der Dichter gesessen hatte,
    Und mein Herz schlug heiß wie die Sonne des Südens,
    Unter welcher der Sänger gewandelt war,
    Und meinen Kopf durchrauschten heiße Gedanken,
    Und mein Mund, berauscht, sprach in feurigen Zungen:
    Seit weit mehr als hundert Jahren
    Liest man dich, herrlicher Heine.
    Seit Jahrtausenden aber hört man
    Dir zu, hochgerühmter Homer.
    Beide wißt ihr
    Um das Geheimnis der Dauer.
    Beide kennt ihr
    Den Schlüssel zum Ruhm.
    Oh, verratet mir das süße Geheimnis!
    Ach, reicht ihn mir, den güldenen Schlüssel!
    Kaum sprach ich die Worte,
    Da teilte die Luft sich,
    Und aus blauem Azur trat
    Ein Paar unters Weinlaub,
    Der Jüngling so Arm in Arm mit dem Greise,
    Als führte ein Sehender einen Blinden,
    Und gemeinsam riefen sie:
    Fürchte dich nicht, Poetlein!
    Sieh! Wir reichen ihn dir, den Schlüssel!
    Horch! Wir verraten es dir, das Geheimnis
    Von Dauer und Ruhm! Es besteht in den Worten:
    Folge den – - -
    Hilflose Striche! Ihr kündet vom Unheil,
    Daß ich das dritte Wort nicht verstanden:
    Wem soll ich folgen? Ihr spracht durcheinander!
    Habt ihr von »Göttern« geredet, von »Spöttern«?
    Ach wiederholt es, das Schlüsselwort!
    Doch da schüttelten sie die Köpfe,
    Der Jüngling, der Alte:
    Von anderen ließen wir uns erweichen,
    Möglicherweise.
    Doch bei dir, Poetlein,
    Gilt »Nomen est omen«.
    Da bleiben wir gern hart.
    Also sprachen die beiden
    Und vergingen im Blau.
    Und über das mäßige Wortspiel
    Erscholl in meinem Rücken
    Nichtendendes Mädchenlachen
    Kichernder, dummer Oleanderblüten.
    IX
    Er liest »Verschiedene«
    Hier spätestens drängt eine Frage sich auf,
    Die, Heine, glaub' ich, erlaubt ist:
    Hast du wirklich so viele Frauen gehabt,
    Wie du in Gedichten behauptest?
    Die Göttin der Gelegenheit -
    Hat sie dich so oft beglücket,
    Wie du in deinen Poesien
    Ein Mädchen ans Herze

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