Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006
lesen.
V
Er beginnt die Lektüre
Ein Buch zu öffnen, meint auch zu verreisen.
Heißt mehr noch: sich auf Neuland vorzuwagen.
Ob seine Worte brechen oder tragen,
Muß sich beim Lesen Satz für Satz erweisen.
Der Heine trug sogleich. Wie man das Eisen
Durch kunstvolle Chemie in Stahl verwandelt,
Hat er das Wort gestählt, das, so behandelt,
Imstand ist, jeden Diensts sich zu befleißen,
Den ihm der Dichter abverlangt. Und Heine
Verlangte viel. Der Kranz seiner Sonette,
Dem er den Titel »Fresko« gab, alleine
Würd', wenn er andres nicht geschrieben hätte,
Genügen, seinen Namen zu bewahren:
So jung und schon so leid- und kunsterfahren!
VI
Er liest im »Buch der Lieder«
Das »Buch der Lieder« zu lesen,
Ist manchmal schon eine Straf'.
Das stete Lieben und Leiden
Wiegt selbst den Wachsten in Schlaf.
Das ständige Scheiden und Meiden
Stets nasser Äugelein klein,
Getragen vom Heben und Senken
Unzähliger Vierzeiler fein
Mit all ihren grausamen Liebchen
Und all ihren Nixen so kalt,
Sie ließen den Leser oft seufzen:
Ich fürchte, hier werd ich nicht alt.
Doch dann stößt er plötzlich auf Zeilen
Zu enden all seine Not,
Auf so gewaltige Schlüsse
Wie »Ich wollt', er schösse mich tot.«
VII
Erinnerung
Warum hab' ich nicht mit achtzehn Jahr
Den Heinrich Heine gelesen?
Warum ist mir nicht bei so manchem Gedicht
Feinsliebchen vor Augen gewesen?
Ich hatte mit achtzehn kein Liebchen hold
Und las auch keine Gedichte.
Ich las Sartre und wichste so vor mich hin.
Das ist die ganze Geschichte.
VIII
Er liest »Die Nordsee«
Das Sonnenlicht brannte
Auf das weithinwallende Arnotal,
Fern begrenzt vom blauen Kamm
Des hochragenden Pratomagno.
Ich aber saß im Schatten der Pergola,
Weinlaubgeschützt,
Die nackten Füße auf kühlenden Fliesen,
Und über die Schulter
Blickten Oleanderblüten mir;
Tiefrote Oleanderblüten
Nickten im fächelnden Wind,
Lächelnde Oleanderblüten
Fragten mich mädchenneugierig:
Was liest du da, Fremder?
Aufblickend sprach ich: Ich lese Heine,
Sämtliche Gedichte
In zeitlicher Folge
Herausgegeben von Klaus Briegleb.
Grad bin ich mitten im Zyklus »Die Nordsee«,
Grad sitzt der Dichter auf »weißer Düne
Am einsamen Strand«,
Auch er nicht ohn' Büchlein:
»Und ich las das Lied vom Odysseus,
Das alte, das ewig junge Lied,
Aus dessen meerdurchrauschten Blättern
Mir freudig entgegenstieg
Der Atem der Götter,
Und der leuchtende Menschenfrühling
Und der blühende Himmel von Hellas.«
So las ich's unter dem blühenden Himmel Italiens,
Und meine Brust schwoll auf wie das Meer des Nordens,
An welchem der Dichter gesessen hatte,
Und mein Herz schlug heiß wie die Sonne des Südens,
Unter welcher der Sänger gewandelt war,
Und meinen Kopf durchrauschten heiße Gedanken,
Und mein Mund, berauscht, sprach in feurigen Zungen:
Seit weit mehr als hundert Jahren
Liest man dich, herrlicher Heine.
Seit Jahrtausenden aber hört man
Dir zu, hochgerühmter Homer.
Beide wißt ihr
Um das Geheimnis der Dauer.
Beide kennt ihr
Den Schlüssel zum Ruhm.
Oh, verratet mir das süße Geheimnis!
Ach, reicht ihn mir, den güldenen Schlüssel!
Kaum sprach ich die Worte,
Da teilte die Luft sich,
Und aus blauem Azur trat
Ein Paar unters Weinlaub,
Der Jüngling so Arm in Arm mit dem Greise,
Als führte ein Sehender einen Blinden,
Und gemeinsam riefen sie:
Fürchte dich nicht, Poetlein!
Sieh! Wir reichen ihn dir, den Schlüssel!
Horch! Wir verraten es dir, das Geheimnis
Von Dauer und Ruhm! Es besteht in den Worten:
Folge den – - -
Hilflose Striche! Ihr kündet vom Unheil,
Daß ich das dritte Wort nicht verstanden:
Wem soll ich folgen? Ihr spracht durcheinander!
Habt ihr von »Göttern« geredet, von »Spöttern«?
Ach wiederholt es, das Schlüsselwort!
Doch da schüttelten sie die Köpfe,
Der Jüngling, der Alte:
Von anderen ließen wir uns erweichen,
Möglicherweise.
Doch bei dir, Poetlein,
Gilt »Nomen est omen«.
Da bleiben wir gern hart.
Also sprachen die beiden
Und vergingen im Blau.
Und über das mäßige Wortspiel
Erscholl in meinem Rücken
Nichtendendes Mädchenlachen
Kichernder, dummer Oleanderblüten.
IX
Er liest »Verschiedene«
Hier spätestens drängt eine Frage sich auf,
Die, Heine, glaub' ich, erlaubt ist:
Hast du wirklich so viele Frauen gehabt,
Wie du in Gedichten behauptest?
Die Göttin der Gelegenheit -
Hat sie dich so oft beglücket,
Wie du in deinen Poesien
Ein Mädchen ans Herze
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