Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006
Bretter vor den Köpfen,
Und vor solchem Bretterwesen
Schützt verschärftes Heine-Lesen.
Jede Seite macht vom Brett
Einen Millimeter wett,
So daß auf dem Sterbebette
Der den vollen Durchblick hätte,
Der beizeit so klug gewesen
Beispielsweise dies zu lesen:
»Was dem Menschen dient zum Seichen,
Damit schafft er seinesgleichen.
Auf demselben Dudelsack
Spielt dasselbe Lumpenpack.
Feine Pfote, derbe Patsche,
Fiddelt auf derselben Bratsche,
Durch dieselben Dämpfe, Räder
Springt und singt und gähnt ein jeder,
Und derselbe Omnibus
Fährt uns nach dem Tartarus.«
XIII
Erkenntnis
Wer wann was liest, hat manchen Grund.
Ob dich ein Buch in Ruh läßt,
Entscheidest du, indem du es
Nicht öffnest, sondern zuläßt.
Ich ließ so manches zu. Man kann
Nicht alles haben wollen.
Jedoch:
Den späten Heine hätte ich
Schon früher lesen sollen.
XIV
Einsicht
»Anders liest der Knabe Terenz,
Anders der Greis.«
Anders liest den Heine, der ahnt.
Anders, der weiß.
XV
Heimkehr
»Schöner Süden! Wie verehr ich
Deinen Himmel, deine Götter,
Seit ich diesen Menschenkehricht
Wiederseh, und dieses Wetter« -
Großer Heine! Wie versteh ich
Deine Worte, grimmer Spötter,
Doch mich hindern an der Heimkehr
Menschenkehricht nicht, nicht Wetter.
Teure Heimat! Heinehalber
Mag mein Konto sich erholen:
Wo ein Dichterkönig feiert,
Tröpfelt es für Kärrner Kohlen.
XVI
St. Heine
Jedwedes Dichten hat Folgen,
An die ein Poet nie gedacht.
Du, Heine, hast uns Literaten
Den Frieden auf Erden gebracht.
Dich, Heine, preisen hier Federn,
Die sich sonst bekämpfen aufs Blut.
Laut rühmt dich der Reich-Ranicki,
Und der Raddatz-Fritz ist dir gut.
Auf dich berufen sich Dichter,
Die einander sonst spinnefeind.
Dein Lob hat zerstrittne Poeten
Wie Rühmkorf und Biermann geeint.
Viel fehlt nicht, sie sprechen dich heilig.
Willst du dich dessen erwehr'n,
Dann lasse nochmal deine Stimme
In göttlicher Frechheit hör'n.
Sag uns was zum Reich-Ranicki,
Zum Biermann, zum Raddatz-Fritz,
Zum Rühmkorf, zum Schreiber der Zeilen,
Zu allen, die deinen Witz
Aus sichrer Entfernung verehren -
Tritt ihnen nur einmal zu nah:
Und statt des heiligen Heine
Wär wieder der höllische da.
XVII
Epilog in Frankfurt
Vier Wochen lang hab ich täglich bedacht:
Wie hat das der Heinrich Heine gemacht?
Vier Wochen lang hab ich mich täglich befragt:
Wie hätte es Heinrich Heine gesagt?
Vier Wochen lang habe ich Heine gelesen:
Es ist eine gute Zeit gewesen.
Vier Wochen lang hab ich wie Heine geschrieben:
Das wäre vielleicht besser unterblieben.
II
Rechter Flügel
Würstchen im Schlafrock
ODER September mit Goethe
15. September
Im Kostümverleih
Dichten meint Vermummen. Reicht mir
Jenen Rock und diese Züge
Für zwei Wochen. Ich will durch sie
Sprechen – zeiht mich nicht der Lüge!
Wer da spricht, ist noch ich selber.
Was er spricht, ist ungeschöntes
Leben, maskenhaft vermittelt.
Bin ja selbst gespannt: Wie tönt es?
16. September
Mondfinsternis in Montaio
Wie sich Luna nach und nach
Erdbedingt verdunkelt,
Und als letzter Phöbusgruß
Schmalster Bogen funkelt,
Denke ich der Holden fern:
Bleibe mir gewogen!
Wirkt dein Freund auch schattenhaft,
Strahlt dir doch sein Bogen.
18. September
Morgenstimmung 9 Uhr 30
Treffen sich bei Sonnenaufgang
Warm und Kalt zu schönster Mischung,
Lenkt dich bergwärts mildes Wehen,
Lockt dich talhin linde Frischung -
Merke auf: In Gegensätzen
Sollst du dich der Welt entfalten.
Und du wirst dich hold erhitzen,
Und du darfst dich sanft erkalten.
Abendgedanken
Steht die Sonn' noch überm Bergkamm,
Dringt vom schattgen Tal her Läuten -
Mag halbblind das Aug' nicht wenden:
Was will dieser Blick bedeuten?
Kann er sich dem Lichte wappnen,
Hilft ihm strahlendstes Gewöhnen,
Andrer Sonne standzuhalten
Nachts im Aug' der holden Schönen.
Mondaufgang
Trittst so rot in unser Blickfeld
Und entwickelst dich so weiß,
Als entwüchse tollem Knaben
Mählich silberbleicher Greis,
Lehre du die ferne Holde:
Auch der Silbergreis kann strahlen,
Um so heller, um so höher
Er sich löst aus Jugendqualen.
19. September
Sonnenaufgang 7 Uhr
Morgenrot in ganzer Breite
Kündet glänzendstes Gelingen,
Schweigend hellblau ruht im Nebel
Landschaft, aber Vögel singen
Schon davon, daß alles licht wird,
Was da eben noch im Schleier.
Auf denn! Fliegt zur Holden, singt ihr:
Bald enthüllt sich auch dein Freier.
Morgenstimmung 9 Uhr
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