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Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006

Titel: Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Gernhardt
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Bretter vor den Köpfen,
    Und vor solchem Bretterwesen
    Schützt verschärftes Heine-Lesen.
    Jede Seite macht vom Brett
    Einen Millimeter wett,
    So daß auf dem Sterbebette
    Der den vollen Durchblick hätte,
    Der beizeit so klug gewesen
    Beispielsweise dies zu lesen:
    »Was dem Menschen dient zum Seichen,
    Damit schafft er seinesgleichen.
    Auf demselben Dudelsack
    Spielt dasselbe Lumpenpack.
    Feine Pfote, derbe Patsche,
    Fiddelt auf derselben Bratsche,
    Durch dieselben Dämpfe, Räder
    Springt und singt und gähnt ein jeder,
    Und derselbe Omnibus
    Fährt uns nach dem Tartarus.«
    XIII
    Erkenntnis
    Wer wann was liest, hat manchen Grund.
    Ob dich ein Buch in Ruh läßt,
    Entscheidest du, indem du es
    Nicht öffnest, sondern zuläßt.
    Ich ließ so manches zu. Man kann
    Nicht alles haben wollen.
    Jedoch:
    Den späten Heine hätte ich
    Schon früher lesen sollen.
    XIV
    Einsicht
    »Anders liest der Knabe Terenz,
    Anders der Greis.«
    Anders liest den Heine, der ahnt.
    Anders, der weiß.
    XV
    Heimkehr
    »Schöner Süden! Wie verehr ich
    Deinen Himmel, deine Götter,
    Seit ich diesen Menschenkehricht
    Wiederseh, und dieses Wetter« -
    Großer Heine! Wie versteh ich
    Deine Worte, grimmer Spötter,
    Doch mich hindern an der Heimkehr
    Menschenkehricht nicht, nicht Wetter.
    Teure Heimat! Heinehalber
    Mag mein Konto sich erholen:
    Wo ein Dichterkönig feiert,
    Tröpfelt es für Kärrner Kohlen.
    XVI
    St. Heine
    Jedwedes Dichten hat Folgen,
    An die ein Poet nie gedacht.
    Du, Heine, hast uns Literaten
    Den Frieden auf Erden gebracht.
    Dich, Heine, preisen hier Federn,
    Die sich sonst bekämpfen aufs Blut.
    Laut rühmt dich der Reich-Ranicki,
    Und der Raddatz-Fritz ist dir gut.
    Auf dich berufen sich Dichter,
    Die einander sonst spinnefeind.
    Dein Lob hat zerstrittne Poeten
    Wie Rühmkorf und Biermann geeint.
    Viel fehlt nicht, sie sprechen dich heilig.
    Willst du dich dessen erwehr'n,
    Dann lasse nochmal deine Stimme
    In göttlicher Frechheit hör'n.
    Sag uns was zum Reich-Ranicki,
    Zum Biermann, zum Raddatz-Fritz,
    Zum Rühmkorf, zum Schreiber der Zeilen,
    Zu allen, die deinen Witz
    Aus sichrer Entfernung verehren -
    Tritt ihnen nur einmal zu nah:
    Und statt des heiligen Heine
    Wär wieder der höllische da.
    XVII
    Epilog in Frankfurt
    Vier Wochen lang hab ich täglich bedacht:
    Wie hat das der Heinrich Heine gemacht?
    Vier Wochen lang hab ich mich täglich befragt:
    Wie hätte es Heinrich Heine gesagt?
    Vier Wochen lang habe ich Heine gelesen:
    Es ist eine gute Zeit gewesen.
    Vier Wochen lang hab ich wie Heine geschrieben:
    Das wäre vielleicht besser unterblieben.

II
    Rechter Flügel
    Würstchen im Schlafrock
ODER September mit Goethe
    15. September
    Im Kostümverleih
    Dichten meint Vermummen. Reicht mir
    Jenen Rock und diese Züge
    Für zwei Wochen. Ich will durch sie
    Sprechen – zeiht mich nicht der Lüge!
    Wer da spricht, ist noch ich selber.
    Was er spricht, ist ungeschöntes
    Leben, maskenhaft vermittelt.
    Bin ja selbst gespannt: Wie tönt es?
    16. September
    Mondfinsternis in Montaio
    Wie sich Luna nach und nach
    Erdbedingt verdunkelt,
    Und als letzter Phöbusgruß
    Schmalster Bogen funkelt,
    Denke ich der Holden fern:
    Bleibe mir gewogen!
    Wirkt dein Freund auch schattenhaft,
    Strahlt dir doch sein Bogen.
    18. September
    Morgenstimmung 9 Uhr 30
    Treffen sich bei Sonnenaufgang
    Warm und Kalt zu schönster Mischung,
    Lenkt dich bergwärts mildes Wehen,
    Lockt dich talhin linde Frischung -
    Merke auf: In Gegensätzen
    Sollst du dich der Welt entfalten.
    Und du wirst dich hold erhitzen,
    Und du darfst dich sanft erkalten.
    Abendgedanken
    Steht die Sonn' noch überm Bergkamm,
    Dringt vom schattgen Tal her Läuten -
    Mag halbblind das Aug' nicht wenden:
    Was will dieser Blick bedeuten?
    Kann er sich dem Lichte wappnen,
    Hilft ihm strahlendstes Gewöhnen,
    Andrer Sonne standzuhalten
    Nachts im Aug' der holden Schönen.
    Mondaufgang
    Trittst so rot in unser Blickfeld
    Und entwickelst dich so weiß,
    Als entwüchse tollem Knaben
    Mählich silberbleicher Greis,
    Lehre du die ferne Holde:
    Auch der Silbergreis kann strahlen,
    Um so heller, um so höher
    Er sich löst aus Jugendqualen.
    19. September
    Sonnenaufgang 7 Uhr
    Morgenrot in ganzer Breite
    Kündet glänzendstes Gelingen,
    Schweigend hellblau ruht im Nebel
    Landschaft, aber Vögel singen
    Schon davon, daß alles licht wird,
    Was da eben noch im Schleier.
    Auf denn! Fliegt zur Holden, singt ihr:
    Bald enthüllt sich auch dein Freier.
    Morgenstimmung 9 Uhr

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