Gesammelte Wanderabenteuer
gelassen. Bruno selbst hatte die heutige Venn-Tour mit drei anderen vorgewandert. Eine Gruppenwanderung wird grundsätzlich vorgewandert. Ich kenne das überhaupt nicht, sondern stürze mich nach Kartenlage ins Abenteuer. Meistens gehe ich allerdings Strecken, die gut markiert sind, sodass der Weg nicht zu verfehlen ist. Bei Gruppenwanderungen sind die Führer alleine schon deshalb zum Vorwandern gezwungen, um nicht eine maulende Truppe im Rücken zu haben, weil man sich verlaufen hat. Trotzdem gibt es zahllose Geschichten über im Wald umherirrende und sich im Kreis drehende Wandergruppen. Herausgefunden haben sie aber immer noch.
|335
Petra hatte mit ihrem Rucksack versehentlich ein Wegeschild umgerissen. Jetzt versuchte die Gruppe mit vereinten Kräften, das Schild wieder aufzustellen. Es misslang übrigens.
|336| Vor zwei Wochen hatte Bruno keine Probleme beim Überqueren des Eschbachs gehabt, überall hatte noch Schnee gelegen und der Bach wenig Wasser geführt. Über einige herausragende Steine war man relativ leicht auf die andere Seite gelangt. Jetzt musste man schon vom anderen Ufer sprechen. Jeder musste hier selbst sehen, wie er über den Bach kam. Alle Wanderer mit hohen Gummistiefeln liefen einfach mittendurch. Andere balancierten mit Hilfe von Stöcken auf querliegenden Baumstämmen zur anderen |337| Seite, eine Frau ging barfuß durch das Wasser. Ich wagte, auf meine gewaltige Sprungkraft vertrauend, den Sprung über den reißenden Bach. Der Satz über gefühlte fünf Meter gelang, und ich wurde fortan »Air« Andrack oder »Bob Beamon des Hohen Venns« genannt.
Eine wichtige Warnung vor Tauwetter. Aber was ist Degel? Tauwetter auf Französisch? Blutsauger im Hochmoor? Feuchte Haare? Dieses rätselhafte Venn!
Unter einer riesigen, 150 Jahre alten Fichte legten wir eine kurze Trink- und Snackpause ein. Obwohl es sich fast ausschließlich um Wanderprofis handelte, wie Bruno mir versichert hatte, fiel nun allen auf, dass Christine und Peter gänzlich unbedarft ohne Wanderverpflegung losmarschiert waren. Vom Rest wurden sie netterweise durchgefüttert. Das war echte Gruppensolidarität.
Zehn Minuten später traten wir aus dem Wald hinaus und gingen entlang einer flachen, hellen Fläche mit wenigen |338| Bäumen und Büschen: Das war das Venn. Das Hohe Venn (auf Französisch: Hautes Fagnes) ist ein Hochplateau. Venn heißt auf Niederländisch Moor, und damit ist auch schon das Hauptmerkmal dieses Gebiets beschrieben. Im Internet hatte ich gelesen: »Das Hohe Venn ist ein für Europa einzigartiges Hochmoorgebiet, der Naturpark ist ein überdimensionaler Wasserspeicher.« Und Wasser gab es reichlich. Es nieselte leicht, dunstige Nebelfelder hingen über der feuchten Landschaft, und der Wind pfiff über die Ebene. Richtiges Moor-Wanderwetter. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie Menschen sich hilflos im Moor verirren und die blassen Arme der Moorleichen aus dem schwarz-brackigen Wasser ragen.
Wir blieben zunächst am Rand des Venns. Der Weg quer durch das Moor war für drei Monate wegen Vogelbrut gesperrt. Wenn es da überhaupt Vögel gab! Der kundigste Kenner diesbezüglich war der diplomierte Naturführer Dieter, der jeden Grashalm und vor allem die hier anzutreffenden fleischfressenden Pflanzen persönlich kannte. Und Dieter hatte sogar das berühmte und total schützenswerte Birkhuhn von Weitem gesehen. Einmal in den bereits 50 Jahren, in denen er im Venn unterwegs gewesen war! Dieter besaß sogar Zutritt zur Zone C. Man muss sich das so vorstellen: Wie das Nachkriegsdeutschland ist das Hohe Venn in vier Zonen unterteilt. In Zone A darf sich jeder frei bewegen, in Zone B muss man immer auf den Wegen bleiben, die Zone C darf man nur zusammen mit einem Naturführer betreten, und in Zone D darf keiner so ohne Weiteres rein. Die Zone D ist somit die Sowjetische Besatzungszone des Venns. Wir wanderten meistens in Zone B auf bewiesten, schnurgeraden Wegen am Venn-Rand.
|339| Unsere Wanderführer hatten geplant, die Mittagspause in einer Wanderhütte zu verbringen. 300 Meter vor der Hütte kamen wir zu einer Stelle im Wald, an der sich vor einigen Jahrzehnten noch ein kleines Dorf befunden hatte. Dieter hatte in seiner Umhängetasche ein Foto von 1957 dabei. Wir sahen ihn als Zehnjährigen genau an der Stelle, an der wir uns nun befanden, im Gras sitzen. Allerdings war hinter dem Jungen von damals ein Bauernhof, der Reinartzhof, zu sehen. Heute lagen hier nur noch Mauerreste. Im Mittelalter
Weitere Kostenlose Bücher