Gesammelte Werke 1
»Gai«, »Gai«, blitzte es immer wieder aus dem Strom der unverständlichen Worte. Die Frage nach Maxims Familiennamen war vergessen.
»Massaraksch!«, platzte schließlich die alte Frau heraus und lachte, und die Mädchen lachten auch. Rada reichte Maxim ihre karierte Tasche, hakte sich bei ihm ein, und sie gingen hinaus in den Regen.
Sie liefen bis zum Ende der schlecht beleuchteten Straße und bogen dann in eine noch dunklere ein. Sie war schmutzig und mit großen Kopfsteinen ungleichmäßig gepflastert, rechts und links duckten sich windschiefe Holzhäuser. Sie schwenkten noch ein zweites und drittes Mal in leere, krumme Gässchen ein. Niemand begegnete ihnen, aber hinter den Gardinen, in den trüben Fenstern leuchteten bunte Lampenschirme, ab und zu drang gedämpfte Musik heran, sangen unangenehme Stimmen im Chor.
Anfangs plauderte Rada lebhaft, wobei sie oft den Namen Gai wiederholte und Maxim jedes Mal bekräftigte, Gai sei gut. Auf Russisch ergänzte er freilich, man dürfe Menschen nicht ins Gesicht schlagen; das sei furchtbar, und er, Maxim, verstehe das nicht. In dem Maße aber, wie die Gassen enger, dunkler und morastiger wurden, stockte der Redefluss des Mädchens zusehends. Zuweilen blieb sie stehen und starrte in die Dunkelheit. Erst glaubte Maxim, sie suche einen möglichst trockenen Pfad. Bald aber begriff er, dass Rada nach etwas anderem Ausschau hielt, denn Pfützen bemerkte sie gar nicht. Er musste sie immer wieder sacht zu den festen Stellen ziehen, und wo es keine gab, fasste er sie unter die Arme und trug sie über den Schlamm. Ihr gefiel das, sie hielt ganz still, vergaß das Vergnügen jedoch schnell wieder - denn Rada hatte Angst.
Je weiter sie sich von der Gaststätte entfernten, desto mehr fürchtete sie sich. Zunächst versuchte Maxim noch, Nervenkontakt
zu ihr zu finden, ihr etwas von seinem Mut und seiner Sicherheit weiterzugeben. Doch wie schon bei Fank - es gelang nicht. Sie verließen das Elendsviertel und gingen auf einem ungepflasterten, durch und durch morastigen Weg weiter. Zur rechten Seite wurde er von einem scheinbar endlosen Zaun begrenzt, der oben mit rostigem Stacheldraht abschloss; zur Linken sah man nichts als stockfinstere Wildnis. Rada verlor jetzt allen Mut. Fast weinte sie. Um ihre Stimmung wenigstens ein bisschen aufzuhellen, fing Maxim lauthals an zu singen, die lustigsten Lieder, die er kannte, eins nach dem anderen. Es half, aber nicht lange. Nur bis zum Ende des Zauns, dem nun wieder Häuser folgten, langgezogene, gelbe, zweistöckige Häuser mit dunklen Fenstern. Von ihnen ging ein sonderbarer Geruch aus, der an erkaltendes Metall, organisches Schmiermittel und etwas Qualmendes erinnerte. Hier und da brannte trüb eine Laterne, und ein Stück entfernt, unter einem abseits stehenden Torbogen, waren düstere, nasse Gestalten zu sehen.
Rada blieb stehen.
Sie krallte ihre Finger in Maxims Hand und flüsterte ihm, immer wieder stockend, etwas zu. Sie war voller Angst: ihretund mehr noch seinetwegen. Wispernd zog sie ihn rückwärts, und er fügte sich, weil er dachte, es würde ihr guttun.
Dann aber begriff er, dass sie aus blinder Verzweiflung handelte, und blieb stehen.
»Kommen Sie«, redete er ihr sanft zu. »Kommen Sie, Rada. Nicht schlecht. Gut.«
Sie gehorchte wie ein Kind, und er führte sie, obwohl er den Weg nicht kannte. Plötzlich wurde ihm klar, dass sie die durchnässten Gestalten unter dem Torbogen fürchtete. Das wunderte ihn, denn die Männer wirkten weder furchterregend noch gefährlich - normale Hiesige, die sich wegen des Regens zusammengekauert hatten und vor Feuchtigkeit und Kälte zitterten. Erst standen sie zu zweit da, dann kamen noch
ein dritter und ein vierter hinzu, jeweils mit glimmenden Drogenstäbchen.
Maxim ging die leere Straße entlang, vorbei an den gelben Häusern, direkt auf die vier Gestalten zu. Rada schmiegte sich immer enger an ihn, und Maxim legte den Arm um ihre Schultern. Womöglich irrte er und sie zitterte nicht aus Angst, sondern vor Kälte? Die Männer hatten wirklich nichts Gefährliches an sich. Er ging an ihnen vorüber - an gekrümmten, frierenden Gestalten mit langen Gesichtern, die ihre Hände tief in die Taschen gesteckt hatten und mit den Füßen aufstampften, um sich zu wärmen. Bedauernswerte Menschen, vom Rauschmittel vergiftet, und sie schienen ihn und Rada zu übersehen, ja, hoben nicht einmal die Augen. Dabei standen sie so nahe, dass er ihren ungesunden, unregelmäßigen Atem hörten konnte.
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