Gesammelte Werke
haben, denn der Mann unter dem Fenster ließ den fast schon geöffneten Schleier der Büsche vorsichtig wieder zufallen und zog sich lautlos in die Mitte des Dunkels zurück.
«Dieses Schwein!» flüsterte im gleichen Augenblick Clarisse kraftvoll ihrem Nachbarn zu, aber gar nicht empört. Bevor sich Meingast verwandelt hatte, hatte er oftmals solche Worte von ihr zu hören bekommen, die damals seinem aufregend freien Benehmen galten, und das Wort durfte sonach als historisch gelten. Clarisse setzte voraus, daß sich auch Meingast trotz seiner Verwandlung noch daran erinnern müsse, und wirklich kam ihr vor, daß sich als Antwort seine Finger auf ihrem Arm ganz leise rührten. Überhaupt war an diesem Abend nichts zufällig; auch jener Mann hatte nicht bloß zufällig Clarissens Fenster auserwählt, um sich darunter zu stellen: Ihre Meinung, daß sie Männer, mit denen etwas nicht in Ordnung sei, grausam anziehe, war fest und hatte sich schon oft als wahr erwiesen! Nahm man alles in allem, so waren ihre Ideen nicht sowohl wirr, als daß sie vielmehr Zwischenglieder ausließen oder an manchen Stellen von Affekten getränkt wurden, wo andere Menschen keine solche innere Quelle haben. Ihre Überzeugung, daß sie es gewesen sei, die es seinerzeit Meingast ermöglicht habe, sich gründlich zu ändern, war an und für sich nicht unglaubwürdig; erwog man überdies, wie unzusammenhängend, weil in der Ferne und in Jahren ohne Berührung, sich diese Veränderung vollzogen habe, und auch ihre Größe – denn sie hatte aus einem oberflächlichen Lebemann einen Propheten gemacht –, am Ende aber gar noch, daß sich bald nach Meingasts Abschied die Liebe zwischen Walter und Clarisse zu jener Höhe der Kämpfe erhoben habe, auf der sie sich noch befand, so hatte auch Clarissens Vermutung, Walter und sie hätten die Sünden des noch unverwandelten Meingast auf sich nehmen müssen, um diesem den Aufstieg zu ermöglichen, keine schlechtere Begründung für sich als unzählige angesehene Gedanken, die heute geglaubt werden. Daraus ergab sich aber das ritterlich dienende Verhältnis, worin sich Clarisse zu dem Zurückgekehrten stehen fühlte, und wenn sie nun von seiner neuen «Verwandlung» sprach, statt einfach von einer Veränderung, so drückte sie nur angemessen die Gehobenheit aus, in der sie sich seither befand. Das Bewußtsein, sich in einer bedeutsamen Beziehung zu befinden, konnte Clarisse im wörtlichen Sinn erheben. Man weiß nicht recht, ob man die Heiligen mit einer Wolke unter den Füßen malen soll oder ob sie einen Finger breit über dem Erdboden einfach in nichts stehen, und geradeso stand es jetzt um sie, seit Meingast ihr Haus erwählt hatte, um darin seine große Arbeit zu verrichten, die wahrscheinlich einen ganz tiefen Hintergrund hatte. Clarisse war nicht in ihn verliebt wie eine Frau, sondern eher so wie ein Knabe, der einen Mann bewundert; beseligt, wenn es ihm gelingt, in der gleichen Weise seinen Hut aufzusetzen wie jener, und von dem heimlichen Wetteifer erfüllt, ihn noch zu übertreffen.
Und das wußte Walter. Er konnte weder hören, was Clarisse mit Meingast flüsterte, noch vermochte sein Auge mehr von den beiden wahrzunehmen als eine im Dämmerlicht des Fensters schwer verschmolzene Schattenmasse, aber er durchschaute alles ohne Ausnahme. Auch er hatte erkannt, was mit dem Mann in den Büschen los war, und die Stille, von der das Zimmer beherrscht wurde, lastete auf ihm am schwersten. Er vermochte auszunehmen, daß Ulrich, der reglos neben ihm stand, gespannt aus dem Fenster sah, und er setzte voraus, daß die beiden an dem anderen Fenster das gleiche täten. «Warum löst keiner dieses Schweigen?!»dachte er. «Warum öffnet keiner das Fenster und verscheucht diesen Unhold?!»Es fiel ihm ein, daß man verpflichtet wäre, die Polizei anzurufen, aber es befand sich kein Fernsprecher im Hause, und er hatte nicht den Mut, etwas zu unternehmen, das auf die Geringschätzung seiner Gefährten stoßen könnte. Er wollte ja überhaupt kein «entrüsteter Philister» sein, er war nur so gereizt! Das «ritterliche Verhältnis», in dem seine Frau zu Meingast stand, konnte er sogar sehr gut begreifen, denn Clarisse war es auch in der Liebe unmöglich, sich eine Erhebung ohne Anstrengung vorzustellen: sie empfing ihre Erhebungen nicht von der Sinnlichkeit, sondern nur vom Ehrgeiz. Er erinnerte sich, wie unheimlich lebendig sie manchmal in seinen Armen hatte sein können, als er sich noch mit Kunstwerken
Weitere Kostenlose Bücher