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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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läßt. Es hatte schon gedämmert, als sie unter solchen Gesprächen ins Haus zurückkehrten.
    «Dieser Meingast lebt davon, daß heute Ahnen und Glauben verwechselt wird» sagte Ulrich schließlich. «Beinahe alles, was nicht Wissenschaft ist, kann man ja nur ahnen, und das ist etwas, wozu man Leidenschaft und Vorsicht braucht. So wäre eine Methodenlehre dessen, was man nicht weiß, beinahe das gleiche wie eine Methodenlehre des Lebens. Ihr aber ‹glaubt›, sobald euch einer bloß wie Meingast kommt! Und alle tun das. Und dieses ‹Glauben› ist ungefähr ein ebensolches Verhängnis, wie wenn ihr es euch mit eurer ganzen werten Person einfallen ließet, euch in einen Eierkorb zu setzen, um seinen unbekannten Inhalt auszubrüten!»
    Sie standen am Fuß der Treppe. Und mit einemmal wußte Ulrich, warum er hierher gegangen sei und wieder mit den beiden sprach wie früher. Es wunderte ihn nicht, daß ihm Walter antwortete: «Und die Welt soll wohl stillstehn, bis du mit einer Methodenlehre fertig bist?» Sie hielten offenbar alle nichts von ihm, weil sie nicht verstanden, wie verwahrlost dieses Gebiet des Glaubens ist, das sich zwischen der Sicherheit des Wissens und dem Dunst des Ahnens breit macht! Alte Ideen ballten sich in seinem Kopf zusammen; das Denken erstarb beinahe an ihrem Andrang. Aber da wußte er doch, daß es nun nicht mehr notwendig sei, wieder von vorn anzufangen wie ein Teppichwirker, dem ein Traum den Sinn geblendet hat, und daß er nur deshalb wieder hier stehe. Es war alles in letzter Zeit viel einfacher geworden. Die letzten vierzehn Tage hatten alles Frühere außer Kraft gesetzt und die Linien der inneren Bewegung mit einem kräftigen Knoten zusammengefaßt.
    Walter erwartete, daß ihm Ulrich etwas erwidern werde, worüber er sich ärgern könne. Er wollte es ihm dann doppelt heimzahlen! Er hatte sich vorgenommen, ihm zu sagen, daß Menschen wie Meingast Heilbringer seien: «Heil heißt doch ursprünglich soviel wie ganz» dachte er. Und: «Heilbringer mögen sich irren, aber sie machen uns ganz!» wollte er sagen. Und: «Du kannst dir so etwas vielleicht gar nicht vorstellen?» wollte er dann auch noch sagen. Er empfand dabei gegen Ulrich eine ähnliche Abneigung wie er sie hatte, wenn er zum Zahnarzt gehen mußte.
    Aber Ulrich fragte bloß zerstreut, was Meingast eigentlich in den letzten Jahren geschrieben und getrieben habe.
    «Siehst du!» sagte Walter enttäuscht. «Siehst du, das weißt du nicht einmal, aber du schimpfst!»
    «Ach,» meinte Ulrich «das brauche ich doch auch nicht zu wissen, dazu genügen schon ein paar Zeilen!» Er setzte den Fuß auf die Treppe.
    Aber da hielt ihn Clarisse am Rock zurück und flüsterte: «Aber er heißt doch gar nicht Meingast!»
    «Natürlich heißt er nicht so: ist denn das ein Geheimnis?»
    «Er ist einmal Meingast geworden, und jetzt bei uns verwandelt er sich wieder!» flüsterte Clarisse heftig und geheimnisvoll, und dieses Flüstern hatte etwas mit einer Stichflamme gemeinsam. Walter stürzte sich darüber, um es zu ersticken. «Clarisse!» beschwor er sie «Clarisse, laß diesen Unsinn!»
    Clarisse schwieg und lächelte. Ulrich ging voran die Treppe hinauf; er wollte nun endlich diesen Sendboten sehn, der sich aus Zarathustras Bergen auf das Familienleben von Walter und Clarisse niedergesenkt hatte, und als sie oben ankamen, war Walter nicht nur auf ihn, sondern auch auf Meingast schlecht zu sprechen.
    Dieser empfing seine Bewunderer in ihrer dunklen Wohnung. Er hatte sie kommen gesehn, und Clarisse trat gleich zu ihm vor die graue Fensterfläche, ein kleiner, spitzer Schatten neben seinem hageren, großen; eine Vorstellung gab es nicht, oder doch nur eine einseitige, indem Ulrichs Name dem Meister ins Gedächtnis gerufen wurde. Dann schwiegen alle; Ulrich, weil er neugierig war, wie sich das weiter entwickeln werde, stellte sich an das freie zweite Fenster, und Walter gesellte sich überraschenderweise zu ihm, wahrscheinlich bloß, bei augenblicklich gleichen Abstoßungskräften, vom Helligkeitsreiz der weniger verdeckten Scheibe angezogen, der dämmrig ins Zimmer leuchtete.
    Man schrieb März. Aber die Meteorologie ist nicht immer verläßlich, manchmal macht sie einen Juniabend früher oder später: dachte Clarisse, während ihr das Dunkel vor dem Fenster wie eine Sommernacht vorkam. Dort, wohin das Licht der Gaslaternen fiel, war diese Nacht hellgelb lackiert. Das Gebüsch daneben bildete eine flutende schwarze Masse. Wo es ins Licht

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