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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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umgetrieben hat, es sich vorstellen mag, einmal nach Hause zu kommen und geradewegs hinzugehn, um das Wasser aus dem Brunnen seines Dorfs zu trinken. Wäre ihm aber nicht dieser Vergleich davorgekommen, so würde er vielleicht bemerkt haben, daß sein ganzer Versuch, sich Agathe unter dem Begriff eines moralisch gemischten Menschen vorzustellen, wie ihn die Gegenwart reichlich hervorbringt, nur ein Vorwand war, um sich vor einer Aussicht zu schützen, die ihn weit mehr erschreckte. Denn merkwürdigerweise übte ja das Verhalten seiner Schwester, das man tadeln mußte, wenn man es bewußt untersuchte, eine betörende Lockung aus, sobald man es mitträumte; denn dann entschwand alles Strittige und Geteilte, und es bildete sich der Eindruck einer leidenschaftlichen, bejahenden, zum Handeln drängenden Güte, die ganz leicht neben ihren entkräfteten alltäglichen Formen wie ein uraltes Laster aussehen mochte.
    Ulrich gestattete sich solche Erhöhung seiner Empfindungen nicht leicht, und schon gar nicht wollte er es angesichts des Briefes tun, den er zu schreiben hatte, so daß er seine Gedanken nun von neuem ins Allgemeine hinauslenkte. Sie wären unvollständig gewesen, wenn er sich nicht daran erinnert hätte, wie leicht und oft in den von ihm miterlebten Zeiten das Verlangen nach einer aus dem Vollen kommenden Pflicht dazu geführt hatte, daß aus dem vorhandenen Vorrat einzelner Tugenden bald die eine, bald die andere hervorgeholt und in den Mittelpunkt einer lärmenden Verehrung gestellt wurde. Nationale Tugenden, christliche, humanistische waren an der Reihe gewesen, einmal Edelstahl und ein andermal Güte, bald Persönlichkeit und bald Gemeinschaft, heute die Zehntelsekunde und tags vorher historische Gelassenheit: der Stimmungswechsel des öffentlichen Lebens beruht im Grunde auf dem Austausch solcher Leitvorstellungen: aber das hatte Ulrich immer gleichgültig gelassen und nur dahin geführt, daß er sich abseits stehen fühlte. Auch jetzt bedeutete es ihm bloß eine Ergänzung des allgemeinen Bilds, denn nur halbe Einsicht vermag glauben zu machen, daß man der moralischen Unausdeutbarkeit des Lebens, die sich auf einer Stufe zu groß gewordener Komplikationen eingestellt hat, mit einer der Ausdeutungen beikommen könne, die in ihr schon enthalten sind. Solche Versuche gleichen bloß den Bewegungen eines Kranken, der unruhig die Lage wechselt, während die Lähmung, die ihn an sein Lager fesselt, unaufhaltsam fortschreitet. Ulrich war überzeugt, daß der Zustand, worin sie aufträten, unvermeidlich sei und die Stufe bezeichne, von der jede Zivilisation wieder abwärts gestiegen ist, weil bisher keine fähig war, an die Stelle der verlorenen inneren Spannung eine neue zu setzen. Er war auch überzeugt, daß ein Gleiches, wie es jeder gewesenen Moral widerfahren ist, jeder kommenden bevorstehe. Denn das moralische Erschlaffen liegt nicht am Bereich der Gebote und ihrer Befolgung, es ist unabhängig von ihren Unterschieden, es ist unzugänglich für äußere Strenge, es ist ein ganz innerer Vorgang, gleichbedeutend mit einem Nachlassen des Sinns aller Handlungen und des Glaubens an die Einheit ihrer Verantwortung.
    Und so fanden sich Ulrichs Gedanken, ohne daß er es vorher beabsichtigt hatte, wieder bei jener Vorstellung, die er, spöttisch an Graf Leinsdorf gewandt, als das «Generalsekretariat der Genauigkeit und Seele» bezeichnet hatte; und obwohl er auch sonst nie anders als übermütig und im Scherz davon gesprochen hatte, sah er nun ein, daß er sich, seit er ein Mann war, nicht anders betragen hatte, als ob ein solches «Generalsekretariat» im Bereich des Möglichen läge. Vielleicht, das konnte er sich zu seiner Entschuldigung sagen, trägt jeder denkende Mensch eine solche Idee der Ordnung in sich, geradeso wie erwachsene Männer unter den Kleidern das Heiligenbild tragen, das ihnen ihre Mutter an die Brust gehängt hat, als sie Kind waren, und dieses Bild der Ordnung, das keiner sich ernst zu nehmen noch abzulegen getraut, kann nicht viel anders aussehen als so: Auf der einen Seite stellt es dunkel die Sehnsucht nach einem Gesetz des rechten Lebens dar, das ehern und natürlich ist, das keine Ausnahme zuläßt und keinen Einwand ausläßt, das lösend ist wie ein Rausch und nüchtern wie die Wahrheit; auf der andern Seite aber bildet sich darin die Überzeugung ab, daß die eigenen Augen niemals ein solches Gesetz erblicken, die eigenen Gedanken niemals es denken werden, daß es nicht durch

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